Vor einigen Monaten hörte ich nun von der Expedition, die John Carter gegen Issus und die Heiligen Therns geführt hatte. Man sprach von Scheußlichkeiten, welche seit undenklichen Zeiten von den Therns an jenen verübt wurden, die den mächtigen Iss hinabwanderten. Und diese Gerüchte kamen mir zu Ohren.
Ich hörte auch, daß Tausende von Gefangenen befreit wurden, von denen nur wenige in ihre Heimatländer zurückzukehren wagten, weil all denen, die aus dem Tal Dor zurückkommen, ein entsetzlicher Tod droht.
Lange konnte ich diese Häresien nicht glauben, und ich betete darum, daß meine geliebte Tochter Thuvia gestorben sein möge, ehe sie das Sakrileg beging, in die Außenwelt zurückkehren zu wollen. Aber dann siegte doch meine väterliche Liebe über diese alten Ansichten, und ich bekehrte mich dazu, lieber die ewige Verdammnis auf mich nehmen zu wollen als weiterhin von ihr getrennt zu sein, falls sie gefunden werden konnte.
Ich sandte also Kundschafter nach Helium und an den Hof von Xodar, Jeddak der Erstgeborenen und auch an den, der jetzt die regiert, die aus der Thern-Nation stammen und sich von ihrer Religion losgesagt haben. Und von allen Seiten wurden mir die Geschichten von unvorstellbaren Grausamkeiten bestätigt, welche die Heiligen Thern im Namen ihrer Religion an den armen, schutzlosen Opfern dieses Glaubens begangen haben.
Es gab viele, die meine Tochter gesehen oder gekannt hatten, und von Therns, die einmal Matai Shang nahegestanden hatten, erfuhr ich, welche Würdelosigkeiten dieser Mann persönlich auf sie gehäuft hatte. Ich war sehr froh zu hören, daß Matai Shang gleichzeitig mit mir dein Gast ist, denn ich hätte ihn sowieso gesucht, und wenn darüber mein ganzes Leben vergangen wäre.
Und ich hörte auch noch von der ritterlichen Freundlichkeit, die John Carter meiner Tochter erwiesen hatte. Man sagte mir, er habe für sie gekämpft und sie gerettet, und er habe gegen die wilden Warhoons gekämpft, sie aber auf seinem eigenen Thoat in die Sicherheit geschickt, und anschließend habe er auch noch gegen die grünen Krieger gefochten.
Kannst du dich noch wundern, Kulan Tith, daß ich selbst mein Leben und den Frieden meiner Nation, ja sogar deine Freundschaft aufs Spiel setze, die mir mehr wert ist als alles andere, nur um den Prinzen von Helium zu schützen und zu verteidigen?«
Einen Augenblick lang schwieg Kulan Tith. Ich beobachtete sein Mienenspiel und stellte fest, daß er sehr perplex war. Und dann sprach er.
»Thuvan Dihn«, sagte er, und sein Ton war freundlich, wenn auch recht traurig, »wer bin ich, der einen Mitmenschen beurteilen darf? In meinen Augen ist der Vater der Therns noch immer heilig, und die Religion, die er lehrt, die einzig wahre. Stünde ich jedoch dem gleichen Problem gegenüber wie du, dann könnte ich keinen Augenblick daran zweifeln, daß ich auch so denken und handeln würde wie du. Was nun den Prinzen von Helium angeht, so kann ich handeln; in dem, was zwischen dir und Matai Shang ist, kann ich höchstens meine Vermittlung anbieten. Der Prinz von Helium soll in Sicherheit zur Grenze meines Landes geleitet werden, ehe die Sonne erneut untergegangen ist, und von dort aus ist er frei zu gehen, wohin er will. Bei Todesstrafe ist ihm jedoch untersagt, das Land Kaol wieder zu betreten.
Wenn es zwischen dir und dem Vater der Therns Streit gibt, dann brauche ich euch nicht aufzufordern, diesen Streit solange zurückzustellen, bis ihr die Grenzen meines Landes hinter euch habt. Bist du damit zufrieden, Thuvan Dihn?«
Der Jeddak von Ptarth nickte, aber Matai Shang, dieser teiggesichtige Göttling, zog eine finstere Miene.
»Der Prinz von Helium ist keinesfalls zufrieden!« rief ich und brach damit den ausgerufenen Frieden, denn ich hatte keine Lust zu einem Frieden, der ausschließlich auf meine Kosten ging.
»Ich bin dem Tod in mehr als einem Dutzend Formen entkommen, als ich Matai Shang folgte, um ihn einzuholen, und ich denke nicht daran, mich wie ein müdes altes Thoat zum Schlächter führen zu lassen, indem ich das Ziel aufgebe, dem ich mich mit der Kraft meiner Arme und der Geschicklichkeit meines Schwertes genähert habe. Und auch Thuvan Dihn, Jeddak von Ptarth, wird nicht mehr zufrieden sein, wenn er mich angehört hat! Weißt du, daß ich Matai Shang und Thurid, dem schwarzen Dator, von den Forsten des Tales Dor über eine halbe Welt gefolgt bin und dabei undenkbare Mühen auf mich genommen habe?
Glaubst du, daß John Carter, Prinz von Helium, sich einer Morddrohung beugt? Kann Kulan Tith ein so großer Narr sein, daß er die Lügen glaubt, die ihm von einem Heiligen Thern oder von Dator Thurid ins Ohr geflüstert werden?
Ich bin Matai Shang nicht gefolgt, um ihn zu töten, obwohl der Gott meines eigenen Planeten weiß, wie sehr es mich in den Fingern juckt, gerade das zu tun und meine Hände um seine Kehle zu legen. Ich folgte ihm, Thuvan Dihn, weil er zwei Gefangene bei sich hat – meine Gattin, Dejah Thoris, die Prinzessin von Helium, und deine Tochter, Thuvia von Ptarth.
Würdest du nun glauben, daß ich zulassen könnte, über die Grenze von Kaol geführt zu werden, wenn nicht die Mutter meines Sohnes mich begleitet und deine Tochter befreit ist?«
Thuvan Dihn wandte sich nun wieder an Kulan Tith. Wut flammte in seinen scharfen Augen, aber er war von solcher Selbstbeherrschung, daß er mit ruhiger Stimme sprechen konnte.
»Wußtest du davon, Kulan Tith?« fragte er. »Wußtest du, daß meine Tochter in deinem Palast gefangen gehalten wird?«
»Das konnte er nicht wissen«, fiel Matai Shang ein, der leichenfahl geworden war; ich glaube, bei ihm war es weniger Wut als Angst. »Er konnte es deshalb nicht wissen, weil es eine Lüge ist.«
Ich hätte ihn am liebsten auf der Stelle erwürgt, aber Thuva Dihn legte mir eine schwere Hand auf die Schulter.
»Warte«, riet er mir und wandte sich wieder an Kulan Tith. »Das ist keine Lüge. Ich kenne den Prinzen von Helium aus allem, was ich über ihn gehört habe, so gut, daß ich weiß, er ist kein Lügner. Antworte mir, Kulan Tith. Ich habe dich etwas gefragt.«
»Drei Frauen kamen mit dem Vater der Therns«, antwortete Kulan Tith. »Phaidor, seine Tochter und zwei andere, die sie als ihre Sklavinnen bezeichnete. Wenn diese beiden Thuvia von Ptarth und Dejah Thoris von Helium sind, so wußte ich es nicht, denn ich habe beide nicht gesehen. Sind sie es, dann sollen sie morgen zurückgegeben werden.«
Während er noch sprach, sah er Matai Shang an, doch nicht so, wie ein Gläubiger seinen Hohenpriester anzusehen hätte, sondern als Herrscher, der einem anderen einen strengen Befehl erteilt. Dem Vater der Therns mußte inzwischen klar geworden sein, daß die Enthüllung seines Charakters den Glauben von Kulan Tith bereits beträchtlich geschwächt hatte. Es war nicht mehr viel nötig, um den mächtigen Jeddak zu seinem erklärten Feind zu machen. Trotzdem ist der seit unendlichen Zeiten in den Völkern wurzelnde Aberglauben so stark, daß selbst der große Kaolianer noch zögerte, das letzte Band zu durchschneiden, das ihn noch an der alten Religion festhielt. Matai Shang war wenigstens klug genug so zu tun, als akzeptiere er den Entscheid seines Gastgebers und Gläubigen und versprach, die beiden Sklavinnen am folgenden Morgen in den Audienzsaal zu bringen.
»Jetzt ist es fast Morgen«, sagte er, »und es wäre mir unangenehm, den Schlaf meiner Tochter zu stören, sonst würde ich die beiden sofort herholen, um zu beweisen, daß der Prinz von Helium einem Irrtum unterliegt.«
Diese letzten Worte sprach er mit solchem Nachdruck, der mich wissen ließ, daß er mich auf ganz subtile Art beleidigen wollte, die es mir nicht gestattete, ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Ich war schon dabei, gegen jede Verzögerung zu protestieren und zu verlangen, daß die Prinzessin von Helium sofort gebracht werde, als Thuvan Dihn das für unnötig erscheinen ließ.
»Ich würde es vorziehen, meine Tochter sofort zu sehen«, erklärte er.
»Wenn aber Kulan Tith mir versichern will, daß niemand in dieser Nacht den Palast verläßt und daß weder Dejah Thoris noch Thuvia von Ptarth zwischen jetzt und dem Zeitpunkt, da sie vor uns gebracht werden – in diesem Raum und bei Tageslicht – ein Leides geschieht, dann beharre ich nicht darauf.«