Dann stieß ich mein Schwert wieder in die Scheide und zog meinen Dolch, mit dem ich meinen linken Arm ritzte. In das Blut tauchte ich zwei Finger, die ich gegen den Himmel hielt. »Mein Blut ist vergossen worden, Mida«, rief ich. »Die, die mich gebar, wurde sinnlos gemartert und gemordet, um ihren Platz in deinem Königreich gebracht. Ich weiß, daß du die Leute in den Städten bereits verflucht hast, aber ich bitte, hilf mir bei meiner Vergeltung, Mida! Schenk mir deine Gnade, Mida, damit das Blut meiner Feinde genauso vergossen werden wird wie mein eigenes!«
Danach warf ich mich zu Boden, um derer zu gedenken, die mich geboren hatte. Sie hatte mich den Gebrauch von Schwert und Dolch, von Speer und Bogen gelehrt. Ihr Stolz, als ich zur Anführerin der Hosta gewählt wurde, hatte meine Freude verzehnfacht. Sehr jung hatte sie mich geboren, hatte gerade erst ihre Mannbarkeit erreicht, als man den Gefangenen gemacht hatte. Bis zu ihrem Tod hatte sie jung ausgesehen. In jeder Schlacht hatte sie an meiner Linken gestanden, ein Schwert, auf das man sich verlassen konnte. Nun war sie nicht mehr.
Es war schon fast dunkel, als Rilas und ich zum Zelt zurückkamen. Fideran hatte die Kerzen angezündet und Fleisch für mich und Rilas gebraten. Als wir unsere Dolche zogen, um das Fleisch zu zerteilen, schrie Fideran auf und griff nach meinem linken Arm.
»Jalav, du bist verwundet!« rief er. »Ich werde sofort ein Tuch holen, um die Wunde auszuwaschen und zu verbinden.« »Nein, Fideran«, sagte ich und zog meinen Arm zurück. »Die Wunde muß bis zum Morgengrauen so bleiben.« »Ich verstehe«, sagte Fideran. Dabei verstand er viele unserer Bräuche überhaupt nicht. Es beunruhigte ihn auch, daß er sie nicht ändern konnte. Er setzte sich mit gebeugtem Haupt ans Feuer. Ich war froh, daß er bald eine andere haben würde, die er umsorgen konnte, ohne daß meine Handlungen ihn noch länger verwirrten.
Die Oberste Hüterin und ich wollten uns auch gerade setzen, als wir weitere Gesellschaft bekamen. Der Gefangene wurde hereingebracht, um sich in meinem Zelt auszuruhen und Kräfte für weitere Anstrengungen zu sammeln. Das Feuer hatte ihn verlassen, nun hing er in den Armen der Kriegerinnen, die ihn hereinbrachten. Sein Schritt war schwer, sein Gesicht blaß. Müde ließ er sich neben dem Pfosten nieder, an dem er wieder angebunden wurde.
»Er schaut wirklich gut aus«, bemerkte Rilas. »Ein Glück, daß er nicht in den Diebstahl verwickelt war, sonst hätte man sich seiner nicht so bedienen können. Schade, daß er nicht lange im Dienste der Hosta stehen wird.«
»Sollte ich je freikommen«, sagte der Gefangene leise, »wird es die Hosta nicht mehr geben. Ich werde Vergeltung fordern für das, was mir angetan wurde.«
»Vielleicht werde ich ihn an die Harra weitergeben«, sagte ich. »Sie haben eine größere Zahl von Kriegerinnen, und ihre Bedürfnisse, so habe ich gehört, sind auch größer.« »Quäle ihn nicht, Jalav«, tadelte Rilas mich. »Die Hosta haben ihre Gefangenen immer freigelassen, wenn sie ihrer Dienste nicht mehr bedurften. Willst du die alten Sitten ändern?« »Auch alte Sitten überleben sich«, erwiderte ich. »Die Harra benötigen immer wieder Gefangene, um diejenigen zu ersetzen, die sie zu sehr abgenutzt haben. Meinst du nicht, Rilas, daß unser Gefangener Gefallen daran findet, den Kriegerinnen zu dienen?«
»Du wirst die erste sein, Mädchen, die meine Rache treffen wird«, schnaubte der Fremde. »Wenn du erst meine Peitsche auf deinem Rücken fühlst, wirst du wissen, was es heißt, in der Gewalt eines anderen zu sein. Und das wird geschehen, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist.« Ich warf das Fleisch, an dem ich gerade nagte, auf den Boden und baute mich vor ihm auf. »Höre, Sthuvad«, sagte ich. »Ich bin Jalav, die Anführerin der Hosta. Wenn Mida es will, werde ich in der nächsten Schlacht enden. Aber deine Beleidigungen habe ich mir das letzte Mal angehört.« Dann rief ich meine Kriegerinnen herein und befahl ihnen, den Gefangenen zu züchtigen. Er versuchte sich zu wehren, als sie ihn aus dem Zelt zogen, aber seine Kräfte waren aufgebraucht. Trotzdem beeindruckte er mich mit seiner Tapferkeit.Rilas sagte kein Wort. Es ist auch nicht die Aufgabe der Obersten Hüterin, sich in die Angelegenheiten einer Anführerin der Midanna einzumischen. Fideran war aufgesprungen, als ich die Kriegerinnen hereingerufen hatte, verzichtete dann aber darauf, sich einzumischen.
Nach einiger Zeit wurde der Gefangene wieder hereingebracht. Sein Rücken zeigte die Spuren seiner Bestrafung. Er schwieg mit trotzig zusammengepreßten Lippen. Nachdem wir unser Fleisch verzehrt hatten, das Fideran wie üblich hatte zu lang braten lassen, griffen wir zu unseren Pfeifen und dem Topf mit Daru. Der Daru war sehr gut gebraut. Voller Wehmut dachte ich daran, daß ich bald niemanden mehr für die Aufgabe haben würde. Fideran kniete am Feuer, als Kilin mit zwei anderen Kriegerinnen eintrat. Ich nickte ihnen zu, und sie warfen sich auf ihn und banden ihn. »Jalav, was haben sie mit mir vor?« schrie er, als sie ihn aus dem Zelt zogen. »Ich will nicht von dir fort.« »Midas Segen sei mit dir, Fideran«, sagte ich. »Vielleicht sehen wir uns eines Tages vor Midas Thron wieder.« Seine Schreie verhallten in der Ferne, und ich strich ihn aus meinem Gedächtnis.
»Alle Stämme unserer Schwesternschaft müssen sich auf den Krieg vorbereiten, Rilas«, sagte ich. »Sollten wir Hosta uns als zu schwach erweisen, die Diebe des Kristalls zu überwältigen, müssen alle Stämme es versuchen. Ich werde Boten zu ihnen aussenden.«
»Ich werde die Stämme gleichfalls besuchen, um sie zu unterrichten«, sagte Rilas. »Du reitest direkt nach Ranistard?« »Ja«, sagte ich. »Es liegt direkt im Norden und wird nicht schwierig zu finden sein. Ich werde an Ort und Stelle entscheiden, wie wir vorgehen.«
»Du und deine Kriegerinnen, ihr seid noch nie in den Städten im Norden gewesen«, dachte Rilas laut nach. »Ich hatte in meiner Jugend einmal die Ehre, eine solche Stadt miterobern zu helfen. Ihre Mauern mußten erklettert werden, damit man die Tore von innen öffnen konnte. Zu diesem Zweck banden wir geflochtene Lederriemen aneinander und warfen sie mit einem eisernen Anker über die Mauer. Daran kletterten unsere Kriegerinnen hoch. Die Weiber der Stadt waren nachlässig in ihren Pflichten, und so gelang der Überfall. Seit dieser Zeit werden die Mauern der Städte besser bewacht, daran mußt du denken.«
»Ja, daran muß ich tatsächlich denken«, erwiderte ich. »Die Mauern von Ranistard müssen fallen, bevor meine Kriegerinnen sie erreichen, aber auch nicht zu früh, damit man nicht das vernichtet, was wir uns holen wollen. Das darf unter keinen Umständen geschehen.«
»Vielleicht solltet ihr zuvor an einer anderen Stadt üben«, schlug Rilas vor. »Ein Fehler, den ihr dort macht, würde nicht so entscheidend sein.« »Das ist eine sehr gute Idee«, sagte ich. »Ich habe von der Stadt Bellinard gehört, die noch weiter entfernt liegt. Vielleicht solltet ihr diese zuerst erobern«, meinte Rilas.
Während ich über diesen Vorschlag nachdachte, betraten zwei Kriegerinnen das Zelt. Sie brachten kleingeschnittenes Fleisch, um den Gefangenen damit zu füttern. Hätte er nicht solch großen Hunger gehabt, dann hätte er es bestimmt abgelehnt. Während er kaute, ruhte sein Blick unverwandt auf mir. Unterdessen betrat eine andere Kriegerin das Zelt, die die Stammesfarben der ermordeten Kriegerinnen und Hüterinnen brachte. »Hier sind die Stammesfarben, wie du es befohlen hast, Jalav«, sagte sie. »Wir waren aber nicht in der Lage, das Amulett der dritten Kriegerin zu finden, weder im Hort noch in seiner Umgebung. Sollen wir weiter suchen?« Ich schüttelte den Kopf und entließ sie. Ich wußte sehr wohl, wo ich das Amulett derjenigen finden würde, die mich geboren hatte. Es war mit dem Kristall entführt worden. Diejenigen, bei denen ich es finden würde, waren meiner blutigen Rache sicher.