Ohne mich weiter um sie zu kümmern, ging ich nach unten. Die drei Wächter folgten Inala und mir auf dem Fuß. Schweigend sahen sie mir beim Essen und Trinken zu. Als ich bemerkte, wie ihr Blick auf meinem Becher mit Renth haften blieb,kam mir ein, wie es schien, ausgezeichneter Gedanke. Ich rief Inala und sagte: »Ich hätte dieses Getränk lieber gebraut. Weißt du, wie man das macht?«
Als sie verneinte, erklärte ich es ihr und befahl, gleich eine genügende Menge für den ganzen Tag zu brauen. Verständnis glomm in ihren Augen auf, und hastig entfernte sie sich. Nach einer Weile kehrte sie mit einem großen Topf zurück, aus dem das würzige Aroma des gebrauten Renth aufstieg. Ich füllte meinen Becher, machte einen langen Zug und leckte meine Lippen. »Vorzüglich!« sagte ich. »Zwar schmeckt er noch immer nicht so gut wie der Daru, an den ich gewohnt bin, aber das Brauen hat seinen Geschmack wesentlich verbessert.« »Ich habe eine ganze Menge davon zubereitet, Herrin«, sagte Inala mit unschuldsvollem Augenaufschlag. »Hoffentlich ist es nicht zuviel.«
»Wir werden damit schon fertig werden«, entgegnete ich und nahm einen weiteren, genüßlichen Schluck. Die drei Wächter sahen sich unentschlossen an, dann sagte der Größte von ihnen: »Bring uns drei Becher von diesem Getränk, Sklavin! Wir müssen untersuchen, ob wir es gestatten können.« »Gebrauter Renth ist nichts für Männer«, sagte ich. »Nur Kriegerinnen, so wie ich, können ihn vertragen.« »Unverschämtes Weib!« grollte einer der Wächter, und der erste sagte, mich mit kalten Augen ansehend: »Sie hätte eine Lektion verdient. Schade, daß man uns verboten hat, sie anzurühren!«
»Ja«, warf der dritte ein, »dabei wurde aber nur von ihr selbst gesprochen, nicht von dem, was sie trinkt. Wir könnten ihr eine Lektion erteilen, indem sie Becher für Becher mit uns standhalten muß.«
»Keine schlechte Idee«, erwiderte der erste. Sie ließen sich alle drei neben mir nieder, kosteten den gebrauten Renth und fanden ihn sehr gut. Unter fürchterlichen Drohungen zwangen sie mich dann, so viel zu trinken, wie sie tranken, und das war nicht wenig. Die Dunkelheit brach herein, als der letzte der drei Becher und Kopf auf den Tisch fallen ließ und zu schnarchen begann, wie seine Kameraden bereits vor ihm. Mir war auch leicht schwindelig, trotzdem konnte ich noch auf meinen Füßen stehen. »Ist es Euch nicht gut, Herrin?« fragte Inala besorgt, als ich leicht schwankte.
»Die Luft draußen wird mich bald wieder klar machen«, entgegnete ich und betete heimlich zu Mida, während ich einem der Wächter die Waffen abnahm und sie selbst anlegte. Als ich mich umwandte, sah ich, wie Inala gerade den zweiten entwaffnete. Gemeinsam nahmen wir auch noch dem dritten die Waffen ab, dann blickten wir uns an.
»Jalav dankt Inala für ihren Beistand!« sagte ich ernst. »Vielleicht sehen wir uns dereinst bei Mida wieder.« »Ihr wollt die Stadt verlassen«, sagte Inala mit weit geöffneten Augen. »Bitte, nehmt mich mit!«
Ich schüttelte den Kopf und erwiderte: »Wir werden als Kriegerinnen gehen. Inala ist keine Kriegerin, und sie kann auch keine werden. Du mußt hier in der Stadt bleiben, denn Mida hat dich weder mit einer Seele bedacht, noch mit einem Amulett, um sie zu schützen.«
»Hier bin ich nur eine Sklavin«, entgegnete sie heftig. »Ich muß Euch nicht fragen, was Ihr von dem Halsband denkt, mächtige Jalav, denn ich habe Eure Wut darüber mit eigenen Augen gesehen. Nehmt mich mit aus den Mauern hinaus, dann will ich euch nicht mehr zur Last fallen. Aber lieber möchte ich in den Wäldern in Freiheit sterben, als noch länger hier als Sklavin leben!«
Beschwörend streckte sie ihre Hand nach mir aus. Ihren Wunsch nach Freiheit nahm ich ihr ab, aber etwas anderes wollte mir nicht in den Kopf. »Wenn es wahr ist, daß du den Tod der Sklaverei vorziehst«, fragte ich, »warum hast du ihn dann nicht schon früher gesucht?«
»Aber das habe ich ja«, antwortete Inala bitter. »Der frühere Hohe Senat hat mich zur Sklavin gemacht, weil ich keine Familie hier in Ranistard habe, noch einen männlichen Verwandten, der für mich sprechen konnte. Oft habe ich den Tod gesucht, indem ich alle angriff, die mir zu nahe kamen, aber als Strafe dafür habe ich nur die Peitsche bekommen, denn eine Sklavin ist zu wertvoll, als daß man sie entbehren könnte. Als ich trotzdem nicht aufhörte, den Tod zu suchen, wurde ich zur Strafe drei Tage der Garde von Ranistard übergeben. Diese drei Tage werde ich nie in meinem Leben vergessen können. Danach wagte ich es nicht mehr, mich zu widersetzen.« Die letzten Worte hatte sie nur noch leise und gequält herausgebracht. Der Renth mußte mich tatsächlich mitgenommen haben, denn ich legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Vor den Toren der Stadt wirst du wieder zu dir selbst finden. Möge Mida dich behüten.« Erst dann wurde mir klar, welche Entscheidung ich soeben getroffen hatte. Inala hob den gesenkten Kopf und sah mich freudig an. »Ich danke Euch!« sagte sie, »und ich werde Euch in aller Ewigkeit dankbar sein.«
Wir nahmen die Waffen auf und verließen vorsichtig das Gebäude, Inala dicht hinter mir. Die Stadtfrau machte zwar großen Lärm, aber glücklicherweise war niemand draußen, der sie hören konnte. Durch ein erleuchtetes Fenster in Telions Behausung erblickte ich Larid, aber auch zwei Bewaffnete, die sie bewachten. Larid erblickte mich, als ich mich schnell wieder wegduckte, und lächelte leicht vor Vergnügen. Ich ließ Inala mit den überzähligen Waffen zurück und schlich mich leise in das Haus. Mit dem Dolch in der Hand stellte ich mich hinter der Tür des Raumes auf, in dem ich Larid entdeckt hatte, dann machte ich ein Geräusch. Einer der Wächter kam mit dem Schwert in der Hand heraus, um nachzusehen. Ich schlug ihm von hinten mit dem Griff meines Dolches auf den Kopf und war sicher, daß er sich nie wieder dagegen auflehnen würde, seinen Helm zu tragen. Schnell sprang ich ins Zimmer hinein. Der zweite Wächter lag auch bereits auf dem Boden. Triumphierend schwang Larid ein Holzscheit in der Hand. »Ich freue mich sehr, dich zu sehen, Jalav«, sagte sie. »Die zwei hielten mich hier fest, während dieser elende Telion wegritt, Mida weiß, wohin. Ich nehme an, daß Ceralt ihn begleitet?«
»Höchstwahrscheinlich«, entgegnete ich. »Aber ich weiß, wo sie hinwollen. Sie suchen den dritten Kristall der Mida – den wir vor ihnen finden müssen.«
»Ich hatte die Existenz des dritten Kristalls ganz vergessen«, sagte Larid. Erfreut sah ich, daß auch sie wieder ihr Amulett trug.
»Wir müssen die anderen zusammenholen und schnell die Stadt verlassen«, sagte ich, »aber vorher müssen wir diese zwei hier fesseln und ihnen die Waffen abnehmen. Sie werden sicherlich nicht so fest schlafen wie die in Ceralts Behausung.« Als wir hinauskamen, war Larid höchst erstaunt, Inala zu sehen, stellte aber keine Frage, wie es sich bei den Entscheidungen der Anführerin gehört. In weniger als zwei Stunden waren fünf von uns auf dem Dach eines Hauses nahe am Stadttor. Fayan hatten wir in der Behausung von Nidisar gefunden, bewacht von zwei unbewaffneten Männern, so daß unsere Waffensammlung keinen Zuwachs bekam. Gimin und Binat waren zwei von denen, die auf der Jagd nach Männern in der Dunkelheit herumschlichen. Sie schlössen sich uns freudig an. Auch die anderen wollten sich uns anschließen, aber das war entgegen meinen Absichten. Der Weg nach Bellinard war weit, und es würde das beste sein, wenn man dort nichts von unserer Gegenwart wußte. Unbewaffnete Hosta konnte man leicht gefangennehmen, und unsere Gegenwart würde bald bekannt werden, wenn wir versuchten, an Waffen zu kommen. Aber eine Handvoll bewaffneter Hosta mußte ausreichen, den Willen Midas zu erfüllen.
Vom Dach des Hauses aus überstiegen wir mit einer zusammengeknoteten Lederleine die Mauer. Schwierigkeiten hatten wir, Inala hinüberzubringen, aber auch das klappte, und so standen wir bald außerhalb der Mauern von Ranistard, bewaffnet und im Besitz einer Strickleiter. Dann machten wir uns eilig auf den Weg nach Süden, denn in dieser Richtung lag Bellinard.