Выбрать главу

Er drehte sich um und ging an der Newa entlang davon. Johannes hielt ihn nicht auf. Sobald der Junge hinter der Biegung verschwunden war, ging Johannes mit weichen Knien zur Eiche zurück und spähte in die Tiefe. Nur das Spiegelbild seines eigenen Gesichts blickte ihn aus dem Wasser an.

* * *

Zu seinem Entsetzen erwartete ihn Marfa in der Kammer. Obwohl der Morgen noch auf sich warten ließ, war sie angekleidet und wärmte sich die Hände an einem Becher mit Brühe. Iwan schlief auf der Bank, aus der Kammer nebenan floss Onkel Michaels schwerer Atem. Johannes blieb an der Tür stehen und senkte den Kopf. Er konnte beinahe spüren, wie Marfas Blick zu dem Riss in seinem Hemd glitt.

»Setz dich, Johannes«, sagte sie leise. Die Missbilligung in ihrem Tonfall war wie ein Messerschnitt.

Marfa stand auf und ging in die Schlafkammer. Als sie wieder erschien, hielt sie ein älteres Hemd von Onkel Michael in der Hand, das sie Johannes nun zuwarf. »Zieh das an und lass dich von Michael nie dabei erwischen, dass du nachts herumziehst. Wir leben nicht mehr in Moskau in der Nemezkaja Sloboda!« Sie betonte den russischen Ausdruck für die Deutsche Vorstadt, als würde sie ihn daran erinnern wollen, dass er nun keine Freiheiten mehr hatte.

»Ich war nur an der Newa«, rechtfertigte er sich.

»Ist mir gleichgültig, wo du warst«, wies sie ihn zurecht. »Ich will nicht erleben, wie man dich erschlagen oder erstochen mit den Füßen voran in die Werkstatt trägt. Ich will nicht, dass du Ärger bekommst. Hörst du denn nicht, was die Bauern und Knechte tuscheln? Willst du als Mörder verdächtigt werden? Wir sind anständige Leute, vergiss das nicht.«

»Ich habe nichts getan«, erboste er sich. »Du kennst mich!«

»Eben«, bemerkte sie trocken. »Du bist ein gutmütiger Hund – und das da draußen sind Wölfe.«

Wie Recht sie hat, dachte Johannes bitter. Eine Sekunde lang war er in Versuchung, ihr zu erzählen, was er gesehen hatte, aber der Gedanke verschwand so schnell, wie er gekommen war. Sie brauchte nicht alles zu wissen, entschied er. »Marfa«, sagte er ernst.

»Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Aber ich lasse mir nicht befehlen, wohin ich gehen darf und wohin nicht.« Nach diesen Worten atmete er tief durch. Noch nie hatte er ihr widersprochen. Fast rechnete er damit, für diese Unverschämtheit eine Ohrfeige einzustecken.

Mit zusammengekniffenen Lippen sah sie ihn an.

Wieder einmal überraschte sie ihn. »Wie du meinst«, sagte sie. »Du hast den Schaden, nicht ich.« Ihre Stimme wurde leiser, als sie sich zu ihm über den Tisch beugte. »Aber denk wenigstens an deinen Onkel. Er hat in seinem Leben schon genug verloren.

Ich will nicht, dass ihm noch ein Unglück das Herz bricht.«

Ihre Stimme bekam bei diesen Worten einen weichen Klang, den er noch nie bei ihr gehört hatte. Als er in ihr Gesicht schaute, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass die harsche Marfa ihren mürrischen alten Mann liebte. Diese Erkenntnis berührte ihn und machte ihn verlegen. Ihm war, als hätte er soeben ein Geheimnis entdeckt, das nicht für seine Augen bestimmt war. Schnell schaute er weg und entfaltete das grob gewebte Hemd, das seinem Onkel zu schmal geworden war. Es fühlte sich fremd an.

»Jetzt schläft er«, fuhr Marfa fort. »Aber nachts quälen ihn Albträume. Es soll nicht auch noch von deinem Blut träumen müssen.«

* * *

Mitja ließ sich den ganzen nächsten Tag nicht blicken, aber Johannes war dennoch nervös. Bisher war es ihm gelungen, seine Unruhe und seine Übermüdung zu verbergen, aber seinem Onkel fiel auf, wie unkonzentriert er arbeitete. Zweimal hatte er sich bereits auf die Finger geschlagen und selbst Iwan, den nichts aus der Ruhe brachte, sah ihn mehrmals verwundert an.

»Hast du den Veitstanz?«, fuhr ihn Onkel Michael an, als er zum dritten Mal einen Nagel schief einschlug. Verstohlen beobachtete Johannes den kräftigen alten Mann, der so sehr seinem Vater ähnelte und vom Charakter doch so anders war. Erstmals fielen ihm die tiefen Sorgenfalten auf Michaels Stirn richtig auf und die verhärteten Mundwinkel, denen man ansah, wie selten er lachte. Und auch Johannes verspürte keine große Lust, fröhlich zu sein. Die Bürde der Ungewissheit, die seit gestern noch schwerer auf seine Schultern drückte, machte ihm zu schaffen. Er musste herausfinden, wer dieser Junge war.

Offensichtlich hatte er Verbindungen zu Mitja – Mitja, der Johannes seit Tagen beobachtete. Mehr denn je hatte Johannes das Gefühl, dass sich ein Henkersseil um seine Kehle zusammenzog, bereit ihm bei der kleinsten falschen Bewegung mit einem Ruck das Genick zu brechen.

Am Nachmittag kam eine neue Fuhre mit Holz an.

Harzduft überlagerte für eine Weile den brackigen Geruch nach Erde und Schweiß. Den Pferden, die die Fuhre zogen, klebte der Schlamm an Brust und Beinen und sie schnaubten vor Erschöpfung. Mit Unbehagen erkannte Johannes, dass einer von Derejews Leuten den Zug begleitete. Es war ein Dragoner. Er trug keinen Mützenhelm wie die Grenadiere, sondern einen Dreimaster, unter dem eine helle, kurze Perücke hervorschaute, und war mit einem Säbel und einem Gewehr bewaffnet. Sein Kinn war glatt rasiert, allerdings trug er einen Schnurrbart ähnlich dem von Derejew. Gemeinsam mit den anderen sprang Johannes herbei und half das Holz abzuladen. Dabei wurde er das Gefühl nicht los, dass der Dragoner ihn düster betrachtete.

»Pass auf!«, brüllte sein Onkel einem Gehilfen zu.

Mit einem Schnappen riss ein Riemen, Holz kam ins Rutschen, verkantete sich an den falschen Stellen.

Ein Pferd scheute und zerrte am Geschirr. Eine Kante schabte schmerzhaft über Johannes’ Unterarm, ein Gewicht riss an seinem Arm. Stechender Schmerz durchzuckte seine Schulter. Gerade noch gelang es ihm, einen Satz zu machen und seine Beine in Sicherheit zu bringen, dann spritzte Schlamm auf. Mit einem mörderisch dumpfen Schlag kam der nur grob zurechtgehauene Baumstamm direkt vor seinen Füßen auf. Johannes’ gezerrter Arm pochte. Vorsichtig versuchte er ihn zu bewegen, aber ein Reißen ließ ihn zusammenzucken. Mit vor Schreck blassen Gesichtern starrten die Gehilfen ihn an. Nur im Gesicht des Dragoners glaubte er ein spöttisches Lächeln aufblitzen zu sehen.

»Geh rein zu Marfa!«, rief Onkel Michael ihm zu.

»Seht nach, ob was gebrochen ist.« Der Dragoner grinste ihn nun offen an. Als Johannes wütend kehrtmachte und zum Haus ging, hörte er die gezischten Worte eines Leibeigenen: »Lass die Arbeit lieber einen Russen machen, dann geht nichts zu Bruch.« Empört drehte sich Johannes um. Sein Onkel hatte die Bemerkung nicht gehört. Dafür zeigten ihm zwei der Arbeiter ein hämisches Wolfslächeln.

Zweifellos hatte Derejews Dragoner die Bemerkung vernommen, aber er machte keine Anstalten, dagegen vorzugehen. Ein kalter Schauer kroch über Johannes’ Genick. Schürten auch Zar Peters Soldaten heimlich den Hass gegen die Ausländer? Das unsichtbare Henkersseil zog sich noch ein wenig mehr zu.

Kurz darauf befand sich Johannes mit einem notdürftig verbundenen Arm auf dem Weg zu den Lastkähnen, die den ganzen Tag über vom Südufer aus zur Haseninsel übersetzten. In der Tasche hatte er eine Liste von Kräutern, die Marfa benötigte, um den Husten und das Fieber des kranken Gehilfen zu lindern. In jedem Gesicht, das ihm entgegenblickte, glaubte Johannes Feindseligkeit zu erkennen. Doch meist war es nur stumpfe Neugier, einen jungen blonden Zimmermann mit einem verbundenen Arm zu sehen.

Mehrere Ruderboote und ein großer Lastkahn legten gerade am Südufer an, als Johannes dort ankam.

Eine Gruppe von Kanalbauern stand bereits an der Anlegestelle und wartete ebenfalls darauf, übergesetzt zu werden. Brücken fehlten zum größten Teil noch, sodass Johannes und sein Onkel sich oft mit Transportkähnen oder auch nur mit kleineren Ruderbooten zwischen den Inseln und Ufern bewegten.

Johannes störte es nicht – im Gegenteil, er freute sich über jede Minute, die er auf dem Wasser verbringen konnte. Wenn er die Augen schloss und dem Knarzen von Tauen lauschte, stellte er sich vor, auf den Planken seiner Jacht zu stehen. Und heute war er besonders froh, sich von der Werkstatt entfernen zu können. Es war ein Glück, dass Doktor Rosentrost ein Freund von Onkel Michael war. Sein Quartier hatte er derzeit in der Apotheke in der Menschikow-Bastion aufgeschlagen.