Tief lag der Kahn im Wasser, nachdem alle darauf Platz gefunden hatten. Johannes machte es nichts aus, ganz an den Rand gedrängt zu werden, wo er das Gefühl hatte, unmittelbar auf dem Wasser zu schweben. Die Sonne war hervorgekommen, es war heiß und weniger schwül als während der vergangenen Regentage. Das Flusswasser verwandelte sich in einen glitzernden Teppich aus kristallgrünen Wellen, die gegen die Kahnwände schlugen. Das Geräusch schläferte Johannes ein. Auf gewisse Weise fühlte er sich getröstet und beruhigt. Tief atmete er durch und genoss das Gefühl, auf dem Wasser zu sein. Er blendete die Kanalbauer aus, die sich auf Holländisch unterhielten und laut lachten, und kümmerte sich nicht um die Leibeigenen, von denen manche das Wasser so sehr fürchteten, dass sie sich an die Heiligenbilder und Holzkreuze klammerten, die sie um den Hals trugen. Völlig in sich gekehrt starrte er stattdessen in die Tiefen der Newa. Irgendwo in diesem Wasser trieben die Körper von Menschen. Irgendwann würde der Fluss seine Beute an Land tragen und der Friedhof am Waldrand würde die Opfer des Wassers aufnehmen. Manche von ihnen würden nie gefunden werden – die Newa trug sie hinaus in den Finnischen Meerbusen und in die Ostsee.
Einmal hatte Johannes in einem Buch die Zeichnungen von Walfängern gesehen. Die gewaltigen Meeresriesen faszinierten ihn beinahe ebenso wie die Schiffe der Walfänger – holländische Fleuten mit bauchigen Rümpfen und hochgezogenen Bordwänden. Johannes stellte sich vor, wie die Wasserleichen unter dem Kiel eines solchen Schiffes trieben, an Riesenwalen und Tintenfischen vorbeischwebten, ewig staunend, ewig blind. Eines dieser Gesichter schien ihn in den Wellen anzublicken, aber es war wohl eine Täuschung des Sonnenlichtes, das auf den Wellen spielte. Johannes rieb sich die Augen. Das Glitzern war immer noch da und tief im Wasser leuchtete eine helle Fläche mit zwei dunklen Flecken wie Augen. Vor Schreck krampfte Johannes seine Finger in den Lederbeutel, den er festhielt. Der Schmerz in seinem Arm brachte ihn wieder zur Besinnung. Ein silbriger Fischleib strich an der Wasseroberfläche entlang, ein gewaltiger und erstaunlicherweise schuppiger Aalschwanz schlug auf das Wasser und breitete einen funkelnden Vorhang aus Wassertropfen über den Himmel. Die Fronarbeiter hörten auf zu beten und wurden starr vor Angst. Im nächsten Moment riefen die Kanalarbeiter durcheinander, trappelten über den Kahn und beugten sich über den Rand. Bedenklich neigte sich der Kahn.
»Zurück!«, befahl der Fährmann und fluchte. Zögernd nahmen die Arbeiter wieder ihre Plätze ein, aber sie reckten die Hälse und deuteten auf das Wasser. Scherzworte flogen hin und her, Johannes verstand genug Holländisch um herauszuhören, dass sie sich überlegten, wie viele Leute von so einem Ungeheuer satt werden könnten.
Hoch türmten sich die Erdwälle der Peter-Paul-Festung vor dem Boot auf, das nun am Newator anlegte. Die Festung war das eigentliche »Sankt Piter Burch«, ein Bollwerk, das Zar Peter nach seinem Namenspatron benannt hatte, dem heiligen Petrus, und das nun der neuen Stadt ihren Namen gab. Ehrfurchtsvoll schritt Johannes durch das Festungstor, das von Soldaten bewacht wurde. Er zeigte das Auftragsschreiben mit dem Handwerkssiegel vor und wurde durchgelassen. Von diesem Eingang aus ging es zum Kommandantenpier. Offiziere und Soldaten waren vor den großen Holzgebäuden zu sehen, die im Gegensatz zu den Werkstätten und Hütten am Südufer wie Paläste wirkten. Innerhalb der Festungswälle konnte man schon erahnen, wie die Anlage bald aussehen würde. An einigen Stellen wuchsen bereits solide Mauern in die Höhe. Steinmetze klopften das Baumaterial auf die richtige Größe zurecht, begradigten Kanten und meißelten Rillen in die Quader. Von fern glaubte Johannes inmitten von heftig debattierenden Baumeistern den Architekten Trezzini zu erkennen, aber er war so vertieft darin, seinen Untergebenen Anweisungen zu geben, dass er Johannes nicht bemerkte. In der Mitte der Festung ragte die hölzerne Kathedrale empor. Johannes schluckte seine Ehrfurcht hinunter, ging am Bootshaus und an der Münzschlägerei vorbei und machte dann einen Bogen zur Menschikow-Bastion, die in nordöstlicher Richtung lag. Erst vor zwei Jahren, im Jahr 1704, war hier die erste staatliche Apotheke eingerichtet worden. Im Augenblick diente das Haus auch als Quartier für die wenigen Wundärzte, die Zar Peter für die Werftarbeiter abgestellt hatte. Ohnehin machten die Russen keinen großen Unterschied zwischen Ärzten und Apothekern. Da so viele Ärzte Deutsche waren, sagten die Worte Deutscher und Arzt für viele das Gleiche aus.
Nun, auf Thomas Rosentrost, der in einem abgeteilten Teil der Apotheke seine Arbeitsräume hatte, trafen alle drei Begriffe zu. Er kam aus Mühlhausen, war Feldarzt und Knochenflicker gewesen, hatte in Leyden und Paris studiert und sich auch Apothekerwissen angeeignet. Er war »Okulist, Stein– und Bruchschneider«, einer der besten Chirurgen im ganzen Zarenreich. Dr. Thomas Rosentrost war niemand Geringerer als der Hofmedicus des Zaren. Streng genommen durfte er nur mit einer Genehmigung andere Patienten behandeln, aber für Thomas Rosentrost waren solche Verordnungen dafür da, dass man sie ebenso geschickt wie gefahrlos umging. Trotzdem würden die Behandlung und die Medikamente Onkel Michael einiges kosten.
Johannes grüßte einen blassen Apothekenhelfer, durchquerte den Raum, der mit Töpfen, Tiegeln und Standgläsern vollgestellt war, und betrat durch eine Seitentür Rosentrosts Reich. Ein polierter Tisch stand in der Mitte, zwei erstaunlich rohe Holzstühle daneben. Auf dem Tisch lagen neben einem Besteck für den Aderlass wild übereinander geworfene Papiere. Rosentrost erledigte für den Zaren die Korrespondenz mit dem Ausland, außerdem bestellte er Medikamente aus England und Holland sowie ätherische Öle aus Moskau. Johannes ging näher heran und entdeckte eine Liste von Pflanzen, die für den zukünftigen Apothekergarten in Sankt Petersburg benötigt wurden. Eine weitere Liste war mit dem Titel »Naturaliensammlung« überschrieben.
Ein solides Regal, das Onkel Michael gezimmert hatte, füllte die ganze Wand aus. Johannes konnte nicht umhin, mit dem Blick eines Zimmermanns zu überprüfen, ob die Winkel richtig saßen und das Holz gerade war. Das Regal musste einer großen Belastung standhalten, denn bis unter die Decke stapelten sich Gefäße und Kisten. Ein ganzes Regal war für Glasbehälter mit getrockneten Kräutern und Heilpflanzen reserviert. Und ganz rechts, in einem schattigen Teil des Zimmers, entdeckte Johannes mit einem Schaudern mehrere große Gläser, in denen zusammengedrückte, faltige Ungeheuer in einer Flüssigkeit dümpelten. Das mussten einige Exemplare der Naturaliensammlung sein, die Thomas Rosentrost verwaltete und katalogisierte. Gerade wollte Johannes näher herangehen, als der Medicus das Zimmer betrat. Das heißt, er betrat niemals ein Zimmer, er brach in ein Zimmer ein – unvermittelt wie eine Naturgewalt. Absätze klackten über die Dielen, dann flog schon die Tür zum angrenzenden Zimmer auf. Die Zornesfalte auf Rosentrosts Stirn war noch tiefer geworden, seine schwarzen Augenbrauen bildeten einen seltsamen Kontrast zur weißen gelockten Allongeperücke, die der Arzt stets mit akkurater Würde trug. Wie immer war er auch heute in einen langen scharlachroten Rock gekleidet und trug ein weißes Plastron um den Hals – eine eng geschnürte Halsbinde.
»Ah, der Brehmer!«, bellte er und grinste. »Setz dich, setz dich. Der Arm, was? Zieh das Hemd aus!«
»Ich habe keine Verletzung«, widersprach Johannes.
»Nicht?« Die schwarzen Brauen zuckten in die Höhe. »Umso besser. Komm her!«
Gehorsam setzte sich Johannes auf einen der abgewetzten Stühle und hielt es aus, dass der Arzt seinen Arm bewegte, ihn streckte und die Muskeln abtastete. Dafür dass sie schon Knochen zersägt hatten und mit dem Trepanierbohrer Löcher in Schädeldecken machen konnten, waren die Hände des Arztes erstaunlich glatt und weich, beinahe wie die einer Frau. Es kam Johannes seltsam vor, sich von ihnen anfassen zu lassen. Als hätte der Arzt gespürt, dass Johannes sich den Schmerz verbiss, ertastete er plötzlich eine Stelle in der Nähe des Ellenbogens und drückte zu. Johannes stöhnte auf.