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Onkel Michael war alles andere als erfreut, dass Johannes nicht mit anfassen konnte. Zwar machte sich Johannes ohne zu murren daran, Holzstücke abzuschleifen, Bretter zu tragen und Werkzeuge zu reparieren, aber eine große Hilfe war er als einhändige Arbeitskraft nicht. Das mit Salbe bestrichene Pflaster, das ihm Thomas Rosentrost umgebunden hatte, brannte auf der Haut wie Feuer, bald allerdings breitete sich eine wohltuende Wärme in seinem Arm aus.
In den nächsten Tagen beobachtete Johannes seine Umgebung noch genauer als bisher. Und es kam ihm vor, als wäre er vorher mit geschlossenen Augen durch Sankt Petersburg gegangen. Trotz Derejews Warnung waren die Gerüchte nie verstummt – im Gegenteil, sie schienen lauter zu werden, als würde sie jemand gezielt schüren. Selbst Johannes bekam hin und wieder einen Zipfel der abenteuerlichen Geschichten zu fassen, die um die Häuserecken flatterten. Hartnäckig hielt sich der Verdacht, dass Michael Brehm den Mörder des Mädchens kannte und ihm geholfen hatte die Leiche verschwinden zu lassen.
Selbst unter den Bojaren, die Zar Peter unterstanden, kursierten derartige Parolen. Darüber hinaus hörte Johannes hier und da ein getuscheltes »Russalka«.
Als am Nordufer der Newa zwei Arbeiter ertranken, schwor eine Bauersfrau gesehen zu haben, wie ein Fischmensch die Männer ins Wasser gezogen habe.
Für diese Aussage, die er »Lüge« nannte, ließ Derejew die Frau öffentlich durchprügeln. Johannes schauderte vor der Entschlossenheit des Obersts, die Geschichten zum Verstummen zu bringen. Handelte er im Auftrag des Zaren? Hasste der Zar den Aberglauben so sehr, dass er Derejew beauftragt hatte ihn aus den Menschen herauszuprügeln? Das Schicksal der Bäuerin war ihm eine Warnung und er beschloss seine Suche nach dem geheimnisvollen Jungen aufzuschieben, bis sich der Tumult gelegt hätte. Einmal jedoch, als er in Richtung der Admiralität ging, entdeckte er in der Menge einen dunklen Haarschopf und ein schmales Gesicht. Der Junge trug einen Korb mit Fischen und steckte für einen davon ein paar Münzen ein. Unauffällig schob sich Johannes näher heran und folgte dem Jungen. Das war nicht einfach, denn er bewegte sich flink durch die Menge, nutzte jede Lücke und entzog sich schon bald Johannes’ Blick. Kurz wog er ab, ob er seiner Angst oder seiner Neugier folgen sollte, dann machte Johannes entschlossen kehrt und ging mit großen Schritten zu dem Mann, der dem Jungen ein paar Fische abgekauft hatte. Der Mann hatte ein von Pockennarben verwüstetes Gesicht, sah aber recht gutmütig aus.
»He, du!«, sagte Johannes zu ihm. »Der Junge, dem du gerade die Fische abgekauft hast – wer ist das?«
Der Mann runzelte die Stirn und musterte Johannes. Er schien zu überlegen, ob er dem großen Zimmermann Rede und Antwort stehen sollte, doch als Johannes eine Kopeke zückte und sie ihm in die Hand drückte, breitete sich ein Grinsen über das Gesicht. »Ein Fischer«, sagte er. »Kommt alle paar Tage hier zum Platz und verkauft seinen Fang.«
»Wo lebt er?«, fragte Johannes.
Der Mann zuckte die mächtigen Schultern und deutete nach Osten. »Irgendwo da.«
»Und wie heißt er?«
»Frag ihn selbst – ich kaufe Fisch bei ihm, sonst nichts.«
»Du weißt nicht, wer er ist?«
»Nein, woher?«
Johannes war nicht sicher, ob der Mann die Wahrheit sagte, aber er gab sich fürs Erste mit der Auskunft zufrieden. Im Osten also – das klang logisch, in Richtung Osten war der Fischer nach ihrem Zusammentreffen davongegangen. Also gehörte er nicht in die Stadt. Er spürte einen Blick und wandte den Kopf. Erwartet hatte er, irgendwo die flackernden Augen des Gottesnarren zu sehen, die aus der Menge der stumpfen Gesichter herausstachen, stattdessen sah er Derejew. Der Oberst beobachtete ihn mit dem lauernden Blick einer Katze. Länger als nötig sah er Johannes in die Augen, bis der Blick zu einer deutlichen Drohung wurde, dann trieb er sein Pferd an und galoppierte so dicht an Johannes vorbei, dass dieser sich nur mit einem raschen Satz in Sicherheit bringen konnte. Um ihn herum lachten einige der Arbeiter auf. Plötzlich konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ganz alleine inmitten einer Meute gegen ihn verschworener Angreifer stand. Aber gehörte Derejew zu ihnen? Mit klopfendem Herzen und düsterer Miene beeilte er sich, seinen Weg zu den Bauplätzen fortzusetzen.
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Mit etwas Mühe gelang es ihm, in der Nacht aus dem Haus zu kommen. Aus Onkel Michaels Kammer drang ersticktes Gemurmel. Johannes wusste, dass sein Onkel wieder Albträume hatte. Wie ein Nebelstreif glitt er an der Hauswand entlang, duckte sich unter dem Fenster und schlug den Weg zur Newa ein. Die Verletzung an seinem Arm hatte zu heilen begonnen, aber prügeln würde er sich heute nicht können. Unruhig sah er sich um und stellte erleichtert fest, dass Mitja nicht in der Nähe war. Heute Nacht war er frei!
Bald war er so weit gewandert, dass die letzten Baracken ihm nur noch wie eine ferne Erinnerung erschienen. Waldland erstreckte sich rechts von ihm, aus sumpfigem Boden ragten Erdinseln, auf denen Zwergweiden und vom Wind zerzauste Birken wuchsen. Längst hatte er die Newabiegung erreicht.
Noch etwa zwei Meilen, dann würde er auf der anderen Seite die Ruine der schwedischen Festung sehen.
Doch eine Fischersiedlung oder etwas Ähnliches entdeckte er nicht. Aufmerksam beobachtete er im Gehen das gegenüberliegende Ufer, aber auch dort war nur Ödnis unter einem hellen Himmel. Ein ovaler Mond stand am Firmament und tauchte die Nebel auf dem Wasser in geisterhaftes Licht. Eine Welle spritzte auf, irgendwo in der Mitte des Flusses. Es mochte ein Fisch sein, der sich seine vielbeinige Mahlzeit von der Wasseroberfläche pflückte. Ein Strudel glättete sich, dann war der Fluss wieder glänzender Seidenstoff. Johannes dachte an die Monstren in der Apotheke und konnte ein Frösteln nicht unterdrücken. In den struppigen Büschen knackte es, als würde jemand oder etwas ihm hinterherschleichen, und immer wenn er den Blick abwandte, hörte er wieder ein Platschen. Noch nie war ihm eine Landschaft so gespenstisch vorgekommen. Im Zwielicht der weißen Nächte erlaubte er seinen Gedanken zu schweifen und sich für einen Augenblick auszumalen, dass es doch so etwas wie eine Russalka gab.
Kein Monstrum, sondern eine richtige Nixe mit magischen Kräften, wie sie in den Seefahrerliedern besungen wurde. Die Tote hatte ausgesehen wie eine der Galionsfiguren, die an so manchem Schiffsbug ihren Körper der Sonne entgegenreckten.
Eine größere Weide kam in Sicht. Als Johannes näher herantrat, erkannte er, dass ihre Äste dicht über dem Wasserspiegel einen Hohlraum bildeten, der wie die Kuppel einer kleinen Kathedrale anmutete. Einige der Äste hingen so tief, dass sie das Wasser berührten. Zwischen ihnen ragte ein Stück Holz hervor.
Es sah aus wie der Bug eines Ruderbootes. Johannes begann zu rennen. Eine Eule erhob sich aus den Zweigen und glitt mit lautlosem Flügelschlag davon.
Johannes verschwendete keinen Gedanken mehr an die Nebel und watete ins Wasser. Mit einem Klacken stießen die Zweige aneinander, als er sie wie einen Vorhang beiseite schob. Da lag das Ruderboot – mehrfach geflickt war es, trotzdem schwappte im undichten Bootsrumpf eine brackige Lache. Was für ein erbärmliches Boot, dachte Johannes. Ich würde mich nicht einmal trauen eine Pfütze damit zu überqueren. Vorsichtig zog er es aus seinem Weidenversteck hervor und betrachtete es. Auch wenn es eher einem Wrack glich, wurde es offenbar noch benutzt.
Die Griffe der Ruder waren blank gerieben und im hinteren Teil des Bootes befand sich ein Korb aus Weidenzweigen. Der Fisch, der darin lag, war so frisch, dass die Augen noch nicht eingefallen waren und die Kiemen aussahen, als würden sie jeden Augenblick anfangen zu zucken.
Johannes sah sich um. Da war keiner. Auch in die Weide über ihm hatte sich niemand geflüchtet. Dafür ertönte nun hinter ihm ein Knacken, ein Vogel rief keckernd und erhob sich in die Luft. Johannes atmete durch, um seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, und watete, so leise er konnte, aus dem Wasser. Vorsichtig ging er näher an eine Gebüschwand heran, die etwa vierzig Schritte von ihm entfernt war. Zweige regten sich, aber er sah nichts. Wer auch immer im Unterholz saß, er war deutlich im Vorteil.