»He, Russe!«, rief Johannes. Nichts rührte sich, nur die Zweige der Weide klapperten hinter ihm in der Strömung. Johannes wurde ärgerlich. »Ich kann warten. Du brauchst dein Boot und dafür musst du an mir vorbei. Ich will nur mit dir reden!«
Er kam sich unglaublich lächerlich vor und hatte den Verdacht, dass er mit einem Hasen redete, der im Unterholz saß und erstaunt den vor sich hin plappernden Menschen betrachtete.
»Komm da raus!«, rief er, diesmal lauter. Wassertropfen regneten auf ihn herab, als sei hinter ihm ein riesiger Fisch aus dem Wasser gesprungen. Johannes fuhr herum. Er kniff die Augen zusammen und spähte zu dem Boot. Eine Hand lag darauf, die sich rasch zurückzog, dann schwappte eine Welle ans Ufer.
»Lass ihn«, sagte eine vertraute Stimme. Wie aus dem Boden gewachsen war der Fischerjunge neben Johannes aufgetaucht. »He, Deutscher«, sagte er zur Begrüßung. Seine Stimme hatte einen resignierten Klang, so als hätte er es soeben aufgegeben, Johannes von einem unglaublich dummen Fehler abhalten zu wollen. Wellen drückten das Boot gegen die Weidenzweige.
»Heute kann ich mich nicht mit dir prügeln«, er-klärte Johannes mit heiserer Stimme. Seine Gedanken flohen wie ein Fischschwarm vor einem ins Wasser geworfenen Stein, schwammen im Zickzack und fanden sich doch in derselben Richtung wieder zusammen. Jemand war im Wasser -das verwachsene Monstrum? Der Fischerjunge ging schweigend zu seinem Boot und begann die brackige Lache herauszuschöpfen.
»Ich weiß von der Russalka«, sagte Johannes. Zufrieden bemerkte er, wie die Hand des Jungen einfror. Einige Augenblicke verharrten sie beide ohne ein Wort.
Der Fischer richtete sich auf und verschränkte feindselig die Arme. »Ach ja?«, fragte er verächtlich.
»Ein neues Märchen? Dann lass mal hören.«
»Kein Märchen, wie du sehr genau weißt. Es ist ein Mensch mit verwachsenen Gliedmaßen oder vielleicht auch ein menschenähnliches Wesen, das in der Newa lebt, stimmt’s? Ich glaube, Derejew wäre mehr als dankbar diese Kreatur zu fangen. Du schützt sie, habe ich Recht? Und du weißt, dass Zar Peter sie töten lassen würde. Sie … war nur scheintot, als sie in der Werkstatt aufgebahrt war.« Er konnte sich ein siegesgewisses Grinsen nicht verkneifen, denn der Junge war aschfahl geworden. »Ich verrate dich nicht«, beeilte er sich zu sagen. »Und auch … das Monster nicht. Ich will nur wissen, was es damit auf sich hat. Das ist alles.«
»Das Monster«, wiederholte der Junge leise. Er sah aus, als würde er das Wort zum ersten Mal in Zu-sammenhang mit dem Russalka-Wesen hören und sich wundern, dass solch ein Ausdruck dafür existierte.
Johannes bohrte weiter. »Du warst es doch, der sie aus der Werkstatt befreit hat. Wie konntest du hineinkommen?«
»Wasser findet jeden Weg«, erwiderte der Junge trocken.
»Wie konnte Derejew denken, sie sei tot?«
»Russalkas haben keinen Herzschlag«, sagte der Junge ruhig. »Es ist leicht, sie für tot zu halten. Und noch einfacher, ihnen Gesellschaft zu leisten.«
»Ihnen? Das heißt, es gibt mehr von diesen Russalka-Monstren?«
»Mehr, als dir lieb sein kann, aber lange nicht genug um alle, die ihnen schaden, zu ertränken.«
»Heißt das, sie hassen uns?«
»Dich«, berichtigte der Junge. »Dich und die anderen, die diese Stadt bauen.«
Johannes brauchte einige Augenblicke, um diese Worte zu verdauen.
»Ihr tötet sie«, fuhr der Junge fort. »Ihr spießt sie mit den Pfählen auf, scheucht sie aus ihrer Ruhe, ihr wühlt den Schlamm auf und werdet sie ersticken mit euren Häusern, euren Menschen, dem Geschützfeuer und den Schiffen.«
Johannes staunte über die Leidenschaft, mit der der junge Russe plötzlich sprach. Betroffen hörte er zu.
»Und der Schlimmste von allen ist der Zar. Wozu holt er Handwerker aus fremden Ländern hierher und verschleppt seine Bauern zur Fronarbeit in die Sümpfe, während ihre Kinder in den Dörfern verhungern?
Warum will er hier in der Einsamkeit eine Stadt bauen?«
»Vor Zar Peter waren die Schweden hier«, wandte Johannes lahm ein. »Es war nicht einsam.«
Bitter lachte der Junge auf. »Weit ruhiger als jetzt, glaube mir. Die Russalkas konnten leben. Nun sind sie dazu verdammt, elend zugrunde zu gehen.«
Oder mit aufgeschnittenem Bauch als Monstrositäten präsentiert zu werden, setzte Johannes in Gedanken hinzu. Er erschrak beinahe, als er merkte, dass er dabei war, sich die Sache dieses Fischers zu Eigen zu machen. Beinahe schämte er sich dafür, zuzugeben, dass er ebenfalls die Stadt im Sumpf nicht mochte.
Dass er sich brennend zurücksehnte – nach Moskau vielleicht, in die Deutsche Vorstadt, oder manchmal sogar in sein Heimatdorf, wo das Leben, das ihm so mühsam erschienen war, immer noch so viel leichter gewesen war als hier. Dennoch: Hier lag seine Zukunft. Nur hier hatte er die Möglichkeit, eines Tages in die Werft zu kommen. Misstrauisch sah er den Jungen an. »Du warst schon hier, als die Schweden noch in ihrer Schanze saßen? Du bist doch nicht etwa einer der Läuflinge?«
»Ein entflohener Leibeigener?« Der Junge lachte.
»Wir gehören doch alle dem Zaren, oder nicht? Nein, noch bin ich frei.«
»Wo lebst du?«
Der Junge verschränkte wieder die Arme in einer ablehnenden Geste, aber immerhin blieb er stehen und sah Johannes mit einer Mischung aus Interesse und Verachtung an. Eine Weile schwiegen sie sich an, bis Johannes begriff, dass es an ihm lag, die Unterhaltung zu beenden. Der Junge war nur noch hier, weil Johannes mit seinem Wissen etwas gegen ihn in der Hand hatte – er ahnte, wie er auf den Fischer wirken musste: ein widerwärtiger Schnüffler, der seinem Geheimnis auf die Spur gekommen war. Nie zuvor war Johannes ein Bild, das andere sich von ihm machten, so abstoßend erschienen.
»Hör mal«, sagte er missmutig. »Ich schweige – auch wenn du es mir vielleicht nicht glauben wirst.
Du hast mein Ehrenwort. Ich will auch nicht, dass diese – Wesen gefangen oder getötet werden.«
Der Junge schien immer noch unentschlossen. Er zog die Brauen zusammen, aber seine Haltung entspannte sich kaum merklich. »Schön«, sagte er schließlich. »Dann können wir ja wieder unserer Wege gehen.«
Johannes zögerte. Der Gedanke gefiel ihm nicht.
Natürlich konnte er sich umdrehen und gehen, sich um seine Schiffe kümmern und die Russalkas vergessen. Oder er konnte hier bleiben und diesem seltsamen Jungen die Hand geben. Einem russischen Fischer, der ihn hasste. Das war auch nicht verrückter als die Erkenntnis, dass es Monster gab, die wie Meerjungfrauen aussahen und nichts lieber getan hätten als ihn zu ertränken. Alles schien besser zu sein als die Einsamkeit, die ihn wieder überwältigen würde wie ein erstickendes Tuch.
»Ich heiße Johannes«, sagte er. »Johannes Brehm.
Ich … gehe bei meinem Onkel in die Lehre. Er ist Tischler und auch Zimmermann. Und ich würde viel lieber in Moskau sein als diese Stadt aus dem Sumpf zu stampfen, das kannst du mir glauben.«
Der Junge sah ihn mit offenem Mund an. »Der Deutsche steigt von seinem hohen Ross, sieh an«, meinte er dann ironisch.
Johannes unterdrückte einen Anflug von Wut und zwang sich zu lächeln. »Im Gegensatz zu dem Russen, der wohl beschlossen hat ewig dort oben sitzen zu bleiben.« Mit heimlicher Freude sah er, wie der Junge rot wurde. Er hat seinen Stolz, stellte er fest.
Mehr Stolz, als für einen Fischer gut sein kann.
»Jewgenij«, sagte der Junge endlich und reckte das Kinn in die Höhe. »Jewgenij Michailowitsch Skasarow.« Es klang nicht nach einer Lüge. Entschlossen streckte er die Hand aus, die Johannes ohne zu zögern ergriff. Sie fühlte sich knochig und sehr kräftig an.