»Du solltest nach Hause gehen, Johannes Brehm«, sagte Jewgenij schroff und wandte sich seinem Boot zu. Flink versetzte er dem Rumpf einen Stoß und sprang hinein.
»Warte!«, rief Johannes. »Bist du öfter hier?«
Jewgenijs Augen loderten unter seinen schwarzen Haaren, die ihm in die Stirn fielen. Während das Boot vom Ufer wegtrieb, betrachtete er Johannes so prüfend, als würde er eine Münze begutachten, von der er nicht wusste, ob sie ihm Gewinn oder Verlust einbringen würde. Staunend bemerkte Johannes, wie das Boot schneller wurde, ohne dass Jewgenij die Ruder berührt hätte. Wirbel bildeten sich um das Heck, Fischhaut glitzerte. Eine Bugwelle türmte sich vor dem Boot auf, das sich ächzend in Bewegung setzte, ein morscher Schlitten, gezogen von schuppigen Leibern. Der Nebel nahm das Boot in Empfang, um es in seiner Umarmung zu verbergen. Fast hörte Johannes den Ruf nicht, der durch die Nebel seinen Weg zu ihm fand und ihm erstaunlicherweise einen warmen Freudenschauer in den Magen schickte.
»Vielleicht«, rief Jewgenij, als er schon zu einem Schemen wurde.
Mitja
Trezzini war ein ungeduldiger Auftraggeber. Oft saß Carsten Sund am Holztisch und raufte sich über dem Papierstapel mit unzähligen Skizzen die spärlichen Haare. Johannes’ Arm heilte schnell. Bald konnte er wieder in der Werkstatt mithelfen, auch wenn der Muskel noch steif war und bei bestimmten Bewegungen schmerzte. Wenn Marfa etwas von Johannes’ nächtlichen Ausflügen bemerkte, verlor sie kein Wort mehr darüber, allerdings nahm sie sehr wohl zur Kenntnis, dass er nicht mehr so viel Zeit für seine Modellschiffe hatte. Den alten Iwan ertappte Johannes mehr als einmal dabei, wie er ihn über den Rand seiner Suppenschüssel düster musterte. Vielleicht lag die Unruhe aber auch an der allgemein gereizten Stimmung und an Mitja, der wieder um die Werkstatt herumstrich. Seit Johannes um die Russalkas wusste, kam es ihm so vor, als würde über der alten Welt eine neue erstehen. Wie ein von der Blindheit Genesener, der den Geräuschen endlich wieder Bilder zuordnen konnte, entdeckte er in den Gesichtern der Leibeigenen ein seltsames Übereinkommen. Die Gerüchte rauschten lauter als trockene Blätter, die der Wind umtrieb. Spuren der Russalkas entdeckte er plötzlich überall und mit solcher Deutlichkeit, dass er sich wunderte, warum niemand sonst sie zu bemerken schien. Hier brach ein Brückengerüst zusammen, was die Konstrukteure dazu veranlasste, auf die un-terirdischen Strömungen zu schimpfen. Dort verschwand Material vom Ufer, das dringend benötigt wurde, um neue Pfähle in den Uferschlamm zu treiben. Flöße aus zusammengebundenen Baumstämmen lösten sich aus unerfindlichen Gründen auf und die Baumstämme zerstreuten sich und wurden von seltsamen Strömungen weit in die Ostsee getragen. Boote liefen voll Wasser, andere kenterten aufgrund von unerklärlich hohen Wellen, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Von Sabotage war die Rede und mehrere Fronarbeiter wurden ausgepeitscht, weil man in ihnen die Übeltäter vermutete. In diesen Tagen, in denen die Luft vor Anspannung zu vibrieren schien, wurde auch ein russischer Geselle ausgepeitscht, der Zar Peter verächtlich als »verdammten Deutschen« bezeichnet hatte. Derejew bekam Johannes nicht zu sehen. Er bemühte sich unauffällig seine Arbeit zu machen, um in den weißen Nächten ungestört am Ufer umherstreifen zu können.
Erst in der dritten Nacht entdeckte er Jewgenij.
Diesmal war das Boot besser verborgen, es war schwer von Fischen, die Jewgenij gerade in den Weidenkorb lud. Jewgenij tat so, als sei ihm das Wiedersehen völlig gleichgültig, aber Johannes ließ sich nicht abschrecken, packte einige Werkzeuge aus, die er mitgenommen hatte, und machte sich ohne viel Aufhebens daran, das Leck im Ruderboot abzudichten.
Trotz seiner Unfreundlichkeit, die Jewgenij gerne an den Tag legte, fühlte Johannes sich bald nicht mehr verhöhnt und vor den Kopf gestoßen. Im Gegenteil. Seit er Jewgenij kannte, schien es ihm, als habe ein neues Leben begonnen, als sei er ein Gefangener gewesen, der einsam in seiner Zelle gelegen hatte, um nun endlich wieder ein wenig Sonnenlicht zu finden. Nie hatte er bemerkt, wie sehr ihm ein Freund gefehlt hatte. Jewgenij schien es ähnlich zu gehen, obwohl er abweisend blieb. Gemeinsam streiften sie am Ufer entlang oder fingen im Wald Rebhühner, die Marfa mit einem kritischen Blick, aber schweigend entgegennahm. In diesen Wochen erfuhr Johannes alles, was ein Mensch über Gurkenfische wissen konnte, die Jewgenij »Korjuschka« nannte und die im Frühjahr aus der Ostsee kamen und zu ihren Laichplätzen newaaufwärts schwammen. Er dagegen erzählte Jewgenij von seinem Leben im Dorf, seinen Brüdern und dem kleinen Gehöft, das nicht ausgereicht hatte, um sie alle zu ernähren. Er verschwieg auch nicht, wie enttäuscht er gewesen war, als sie unter Brüdern ausgelost hatten, wer von ihnen nach Russland gehen musste und wer nach Holland zu einem weiteren Onkel gehen durfte, um Drechsler zu werden. Nun, Johannes hatte das kürzere Stöckchen gezogen. Jewgenij hörte ihm zu und stellte Fragen zu seinem Bruder Simon, der ertrunken war, zu seiner Reise nach Moskau, die ihn über die Ostsee um das Nordkap bis zum Hafen nach Archangelsk geführt hatte. Am liebsten aber lauschte er den Geschichten aus Moskau. Zum ersten Mal hatte Johannes das Gefühl, mehr über das Land zu wissen, in dem er nun lebte, und er musste zugeben, dass es ein gutes Gefühl war. Er beschrieb die bunt bemalten Pferdekutschen, die mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren – die Droschken und die großen Troikas, die von drei Pferden gezogen wurden. Für Jewgenij ließ er die Maskenumzüge lebendig werden, die Eisbahnen und Schlittenfahrten, die geschmückten Frauen und die Wintermärkte, auf denen Händler tiefgefrorene Köstlichkeiten feilboten, die von den Käufern auf Handschlitten nach Hause gezogen wurden. »Vor dem Kreml dürfen keine Märkte errichtet werden, deshalb tragen die Händler ihre Waren auf dem Rücken«, erzählte er. »Für jede Ware gibt es einen Verkaufsplatz – für den Verkauf von Seide, von Tuch, Leinenzeug und Bildern. Auf einem Platz verkaufen nur Kürschner ihre Ware, anderswo sind nur Schuster oder Goldschmiede. Und dann gibt es noch den Lausemarkt. Er wird so genannt, weil dort viele Barbiere ihre Läden haben. In einem Haus, das einfach der ›Gasthof‹ genannt wird, stellen Perser, Armenier und andere Völker ihre Waren aus.«
Schließlich erging er sich in der Beschreibung der Kirchen und der unzähligen Glocken, deren Klänge die Stadt wie ein ewiges Wiegenlied umflossen. Er vergaß auch nicht, den Kolomenskojepalast bei Moskau zu erwähnen, der ohne einen einzigen Nagel erbaut war, zweihundertfünfzig Wohnungen barg und insgesamt dreitausend Fenster hatte, in deren Scheiben sich das Sonnenlicht brach wie in einem gewaltigen Kristall.
Als die Nächte wieder dunkler wurden und die Schiffsmodelle verstaubten, weil keine Hand sie mehr berührte, begannen Johannes und Jewgenij, Fische über einem kleinen Feuer zu rösten. Schnell hatte Johannes herausgefunden, dass sein Freund kein gewöhnlicher Fischer war – die Russalkas trieben ihm die Beute ins Netz, sodass er sie nur noch aus den Wellen zu ziehen brauchte. Die Soldaten zahlten gut dafür.
»Ist es weit bis zu deinem Haus?«, fragte Johannes eines Nachts, als sie am Ufer saßen. Jewgenij schüttelte stumm den Kopf. Die unausgesprochene Frage wälzte sich schwer zwischen sie und Johannes ärgerte sich bereits, sie überhaupt gestellt zu haben. Dennoch ließ ihn die Neugier nicht los. Ein Halbmond stand am Himmel, ab und zu ließ eine Welle das Boot schaukeln. Johannes wusste, dass die Russalka in der Nähe umherstreifte, obwohl sie sich ihm noch nie gezeigt hatte. Sosehr sich Johannes bemühte – mehr als ein Glitzern oder eine Hand, die flüchtig im Wasser auftauchte, bekam er von ihr und den anderen Russalkas nicht zu sehen. »Du willst wissen, wer ich bin«, stellte Jewgenij fest. »Dann frage mich doch einfach. Dieses Geschleiche um den Futtertopf kann ich nicht leiden.«