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»Gut«, sagte Johannes. »Wer bist du? Wo lebst du, wer ist deine Familie?« Und wie um sich zu rechtfertigen setzte er hinzu: »Ich meine, du weißt so viel von mir, ich habe dir von meinen Brüdern erzählt, von Moskau … von dir weiß ich nur, dass du Fische fängst und mit Russalkas sprechen kannst.«

Jewgenij lächelte kryptisch. »Ich wohne auf der anderen Seite der Newa. Von dort drüben geht es ostwärts weiter. Es ist eine Kate aus Kiefernholz. Sie

… hat meinem Großvater gehört.«

»Sie gehörte ihm? Also war er kein Leibeigener?«

Jewgenijs trockenes Lachen störte eine Flussratte auf, die sich raschelnd durch die Uferböschung davonmachte. »Denkst du immer nur wie ein Grundbesitzer?«, fragte er spöttisch. »Hier die Herren, dort die Sklaven?« Er verbiss sich ein verschmitztes Lächeln. »Uns gibt es gar nicht, verstehst du? Wir sind weiße Wölfe – man sagt, sie existieren, aber die, die einen gesehen haben, können es selten beweisen.

Manche halten uns für Finnen, manche für Russen, der Zählung durch die Kuriere der Zaren haben wir uns seit jeher entzogen.«

»Aber dann bist du in Gefahr! Wenn jemand herausfindet, dass ihr keine Papiere habt …«

»Hör auf, Brehmow«, unterbrach ihn Jewgenij unwirsch. »Wenn der Fischer zu gierig ist, rutschen die Fische ihm durchs Netz. Auch Soldaten lassen sich bestechen. Und meine Großmutter zahlt gut.«

»Du lebst mit deiner Großmutter in eurem Haus?«

Musste er jede Antwort aus seinem Freund herauspressen? Es schien Jewgenij viel zu kosten, ihm eine Antwort zu geben. »Ja. Aber sie ist krank.«

»Krank?«, rief Johannes aus. »Warum hast du das nicht früher gesagt? Ich kann dir helfen – ich kenne den besten aller Ärzte!«

Unvermittelt fuhr Jewgenij hoch. Erstaunt sah Johannes ihn an. Wütend klopfte sich der Fischer Grashalme von der schäbigen Jacke. »Du verstehst es nicht, was?«, fuhr er ihn barsch an. »Ich will eure Ärzte nicht! Wir brauchen keine Almosen. Ihr seid die Eindringlinge hier – ohne euch gäbe es keine Krankheiten hier, keinen Krieg, keine Toten. Ohne euch hätte ich noch eine Familie, wenn du es wissen willst!«

Johannes war, als hätte ihm Jewgenij einen Schwall eisigen Wassers über den Kopf geschüttet.

Seine anfängliche Empörung wich einem bangen Gefühl des Bedauerns. Jewgenij stand vor ihm, die Hände zu Fäusten geballt. Unwillkürlich schämte sich Johannes für etwas, was er nicht getan hatte.

»So habe ich es nicht gemeint, Jewgenij«, sagte er leise. »Entschuldige – ich wusste nicht, dass deine Familie … gestorben ist.«

»Gestorben? Das klingt, als hätten sie die Augen zugemacht und wären eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Aber so einfach war es nicht. Ermordet wurden sie! Meine Mutter, mein kleiner Bruder und

… meine Schwester. Was glaubst du, was Soldaten im Blutrausch mit Menschen machen?« Johannes schluckte krampfhaft. Plötzlich fror er. »Mein Bruder war noch so klein, dass er nicht einmal weglaufen konnte, als …« Jewgenij räusperte sich und wandte den Kopf ab. Aber Johannes hatte das verräterische Glänzen in seinen Augen längst bemerkt. Er kämpfte den seltsamen Impuls nieder, seinen Freund in den Arm zu nehmen. Krampfhaft atmete Jewgenij durch und setzte sich wieder. Mit unergründlichem Gesicht starrte er auf das Flusswasser.

»Nicht einmal die Russalkas konnten sie retten«, sagte er bitter. »Jetzt sind wir allein – nur noch Katka und ich.«

»Das tut mir Leid«, sagte Johannes. »Glaubst du wirklich, ich sei mit schuld daran?«

Jewgenij zuckte trotzig die Schultern, aber Johannes sah, wie seine Fäuste sich langsam wieder öffneten. »Nicht du, Brehmow. Aber die Deutschen, dieser Zar und seine Soldaten – eure Ärzte …«

»Warum seid ihr nicht geflohen?«, fragte Johannes.

Jewgenij sah ihn an, als hätte er ihn gefragt, warum sie sich nicht in den Fluss gestürzt hatten. »Und die Russalkas zurücklassen?«, fragte er. »Niemals!

Seit Generationen sind wir ihre Hüter!«

Nun war Johannes verblüfft. »Das heißt, ihr könnt das Newadelta nicht verlassen?«

»Wozu?«, fragte Jewgenij. » Ich will auch nicht fort, solange es hier noch Russalkas gibt. Nun, bald werden wir frei sein zu gehen, wohin es uns beliebt.«

»Warum fliehen die Russalkas nicht? Können sie nicht im Meer leben?«

»O doch«, gab Jewgenij zurück und betrachtete seine Hände. Sie waren nicht mehr zu Fäusten geballt und auch seine Stimme klang plötzlich weich und leise, wie Johannes sie nicht kannte. »Die Russalkas sind das einzig Schöne im Leben. Sie sind würdevoll und friedlich – Schönes muss man bewahren. Schon als Kind habe ich den Frühling erwartet.

Sobald das Eis auf der Newa brach und die Gurkenfische zu ihren Laichplätzen schwammen, wartete ich auf meine Russalka. Jedes Jahr begrüßt sie mich. Eines Morgens ist sie da, wie ein Kind mit verschlafenen Augen. Im Winter ruhen sie auf dem Grund des Flusses. Nun werden sie keine Ruhe mehr finden.«

Er senkte den Kopf. »Sie würden gerne fliehen, Brehmow. Sie sind ein altes Volk, das müde ist vom Warten. Längst haben sich die anderen im tiefen Herzen des Meeres gefunden, sich zurückgezogen von den Gefilden der Menschen. Meine Russalka erzählt oft davon wie von einem fernen Paradies.

Aber sie dürfen nicht.«

»Warum nicht?«

Jewgenij lächelte. »Ich wäre ein schlechter Hüter, wenn ich es dir verraten würde, nicht wahr? Vergiss nicht, du bist mein Feind.«

»Dann frage ich die Russalka!«

Sein Freund lachte auf. »Es könnte sein, dass du schneller, als du schauen kannst, auf dem Grund der Newa liegst.«

»Das müsste dir doch sehr recht sein«, gab Johannes zurück.

Jewgenijs Grinsen wurde breit und verschmitzt.

»Ein toter Deutscher in der Newa – o ja, das würde uns jetzt gerade noch fehlen!«

* * *

Die ganze Stadt war auf den Beinen, als im Hafen ein holländisches Handelsschiff einlief und Salz und Wein ausgeladen wurden. Die Leibeigenen wurden nicht müde die fremdländischen Gäste anzustarren.

Zar Peter ließ die Mannschaft fürstlich bewirten und feierte die Ankunft des Schiffes mit einem großen Fest. In diesen Tagen bekam Johannes einen Eindruck davon, wie Sankt Petersburg einst sein würde: ein riesiger Handelshafen, wo Waren aus aller Welt umgeschlagen wurden. An Bord des Schiffes war erstaunlicherweise auch eine Frau – ihre seidenen Röcke bauschten sich im Wind, während sie von der Reling ihren Blick über die riesenhafte Baustelle schweifen ließ und das Treiben auf der Hafenmole beobachtete. Nach europäischer Mode war sie in ein enges Mieder geschnürt. Für Johannes war das inzwischen ein ungewohnter Anblick, umso faszinierter betrachtete er die Frau mit dem ernsten Gesichtsausdruck, die ihn an seine Christine erinnerte.

Just als das Schiff wieder ablegte und Kurs auf die Ostsee nahm, kamen aus Moskau die nächsten großen Transporte an. Sie brachten Gurken, Wachs, Honig und Getreide, außerdem die neuesten Berichte, die gierig aufgesogen wurden.

Mit besorgtem Gesicht lauschte Onkel Michael den Berichten von den Kosakenaufständen am oberen Don. Unter den Kosaken waren auch viele entflohene Leibeigene. Ihre Besitzer, die berechtigt waren, nach ihren Bauern im ganzen Land zu fahnden, sie einzufangen und wieder zurückzuschleppen, warteten darauf, dass der Zar etwas unternahm. Dramatisch fuchtelte der Fuhrmann mit den Händen in der Luft herum, während er die Kämpfe schilderte und den Anführer der Kosaken, Ataman Kondratij Bulawin, nachahmte, wie er seine Forderungen stellte. In manchen der Gesichter glaubte Johannes so etwas wie düstere Bewunderung für die Aufständischen zu entdecken.

Das Wichtigste, was der Transport jedoch brachte, war ein Sack voller Zeitungen und Briefe aus der Deutschen Vorstadt – Johannes schien es wie eine Ewigkeit, bis er auf einem der Schreiben endlich Christines geschwungene, etwas kindliche Schrift erkannte. Das Papier war fleckig und wellig, wahrscheinlich war es unterwegs nass geworden und wieder getrocknet, aber die Buchstaben waren noch gut zu erkennen. Ein Kribbeln durchfuhr Johannes’ Hand, als er das spröde Papier berührte, dann rannte er mit seiner Beute schnurstracks in die Werkstatt und verkroch sich hinter die Hobelbank. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wurde ihm bewusst, wie selten er in den vergangenen Tagen an Christine gedacht hatte. Begierig las er die ersten Zeilen. Die Enttäuschung schlich sich heran, mit jedem Wort einen weiteren Schritt, bis sie schließlich neben ihm aufragte, groß und unüberwindbar. Kein einziges Liebeswort stand in dem Brief, stattdessen quoll das Schreiben vor wohl erzogenen Phrasen geradezu über. Christine erkundigte sich nach seinem Befinden um dann zu berichten, was es in der Vorstadt Neues gab. Der Sekretär der britischen Botschaft war krank. Ihr Vater hatte sich jetzt auf den Verkauf von Zobelpelzen verlegt, die er über Sibirien aus China bezog. »Der Händler hat uns auch Teekraut geschickt, außerdem gesternten Anis und chinesischen Tabak«, schrieb sie weiter. Ihre Schwester Helene würde im August heiraten – einen Wollhändler, der inzwischen auch gute Geschäfte mit Seide machte. Ansonsten wünschte sie ihm gute Gesundheit und hoffte, er fühle sich in der neuen Stadt wohl.