Hektisch drehte Johannes das Blatt um, stöberte nach einer verborgenen Nachricht, aber da war nichts, kein persönliches Wort. Christine und er hätten flüchtige Bekannte sein können, um sich solche Briefe zu schreiben. Wütend faltete er das Papier zusammen und stopfte es in seine Hosentasche. Das Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, wurde übermächtig. Plötzlich wünschte er sich nichts sehnlicher als Christine zu sehen. Er war so in Gedanken versunken, dass er kaum bemerkte, wie Iwan den Raum betrat. Erst als der alte Mann etwas Unverständliches murmelte und sich abrupt wieder zum Gehen wandte, fiel Johannes auf, dass er nicht allein war. Missmutig klopfte er sich die Sägespäne von der Hose und stapfte zum Haus hinüber.
Ein Trappeln ließ ihn zurückblicken. Der Geruch von alter, modriger Kleidung schlug ihm entgegen.
Mitjas Fratze tauchte neben ihm auf. Noch nie war ihm der Gottesnarr so nahe gekommen. Wahnsinn verzerrte seinen Mund zu einem zähnefletschenden Grinsen. Schnell wie eine Viper schnappte er nach Johannes’ Arm. Normalerweise wäre ihm das nicht gelungen, aber Johannes wagte nicht sich zu wehren und versuchte nur sich der Reichweite des Rasenden zu entziehen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass einige der Gehilfen ihre Arbeit liegen ließen und mit offenen Mündern die Szene beobachteten.
»Lass los!«, zischte er Mitja zu, aber der Narr riss an seiner Kleidung, sprang um Johannes herum wie ein tollwütiger Hund, der sich nicht abschütteln ließ.
Johannes hätte ihn niederringen können, aber er traute sich nicht. Endlich ließ Mitja von Johannes ab und rannte ein paar Schritte davon. Triumphierend hielt er ein Stück Papier in die Höhe. Christines Brief! Johannes’ Blut wurde zu Lava, seine Hände zu Klauen, bereit diesem Verrückten jeden einzelnen Finger zu brechen.
»Gib ihn her!«, brüllte er. Drohend erhoben sich ein paar der Leibeigenen und bildeten hinter Mitja einen Halbkreis. Wenn er dem Narren den Brief aus der Hand schlug, würde er es mit mehreren Gegnern zu tun bekommen. Mitja grinste siegesgewiss und stopfte sich das Papier in den Mund.
»Du Dreckskerl!«, schrie Johannes und stürzte sich auf ihn. Und wenn er sich mit der ganzen Meute prügeln sollte – es war ihm egal. Mitjas Augen wurden groß wie Holzteller, er gab einen erstickten Laut von sich und floh. Die Leibeigenen stoben auseinander. Ein Stock, den jemand geworfen hatte, traf Johannes am Knie und ließ ihn stolpern. Er fiel, rappelte sich auf und jagte den Gottesnarren über den Platz.
Mitja war erstaunlich schnell. Wie eine Lumpenpuppe auf der Flucht flitzte er auf einen Holzstapel zu.
Beinahe hatte ihn Johannes erreicht, als der Gottesnarr strauchelte. Das Getöse, mit dem er in dem Holzstapel landete, war ohrenbetäubend. Johannes konnte gerade noch einem Scheit ausweichen, das ihm vor die Füße fiel, dann lag der Narr schon da und starrte seine Hände an. Blut floss ihm aus der Nase, Brocken von halb zerkautem Papier fielen aus seinem Mund. Verächtlich spuckte er den Rest aus.
Schmerz schien er nicht zu fühlen, er starrte völlig fasziniert das Blut an, das auf seine riesigen, groben Hände tropfte. Rote Perlen bildeten sich auf der Haut und verwandelten sich in kleine Flüsse. Einen der runden Tropfen balancierte der Narr auf einer Fingerkuppe, die er nun Johannes entgegenhob.
»Erlösung oder Knechtschaft!«, erklärte er ernsthaft. »Der Schatz leuchtet an der Krone des Himmels. Der Fisch, der Wolken küsst, verschlingt sie.«
»Was?«, sagte Johannes. Offensichtlich hatte Mitja den Brief schon längst wieder vergessen. Selten hatte er sich hilfloser gefühlt.
»Holz und Essig«, fuhr Mitja fort. »Wenn die Sonne kommt, schmilzt der Berg und die Schädel wimmern in der Küche. Ich habe Wein getrunken, aber das war in Archangelsk.«
»Lass ihn in Ruhe!«, ertönte eine heisere Stimme hinter Johannes. Er wandte sich um und erschrak.
Die Front war aufgerückt, düstere bärtige Gesichter starrten ihn an, Fäuste schlossen sich um Holzscheite.
»Lasst ihr mich in Ruhe«, rief Johannes. »Kommt auch nur in meine Nähe und ich sorge dafür, dass ihr in den Sumpf zurückgeschickt werdet, wo ihr hergekommen seid. Ihr wisst, welche Strafen der Zar für Prügeleien vorsieht.«
Einer der Leibeigenen, der nur ein Auge und einen nebelgrauen Bart hatte, spuckte aus. »Dein Zar lästert Gott. Er lässt Kirchenglocken einschmelzen und Kanonen daraus gießen«, knurrte er. »Aber bald wird er absaufen. Mit seiner ganzen verfluchten Stadt.«
Die Stille, die sich auf den Platz legte, erinnerte an die Ruhe einer Gruft. Die Knechte hatten aufgehört zu atmen, sie starrten den Einäugigen an und rückten von ihm ab. Er wurde blass und senkte den Kopf.
»Wer hat das gesagt?«, fragte Johannes. Die Art, wie die anderen Leibeigenen die Augen niederschlugen, beunruhigte ihn. Nur der Einäugige hielt seinem Blick immer noch stand. »Ein Pope hat es gesagt«, murmelte er. »Als sie uns auf den Marktplatz getrieben haben. Um uns hierher zu bringen.«
»Wo kommst du her?«, fragte Johannes. Der Mann wurde noch bleicher. »Ich will dich nicht anklagen«, beeilte sich Johannes zu sagen. »Ich will nur wissen, woher du kommst.«
Der Einäugige räusperte sich. »Aus Jesengorod.«
An diese Stadt erinnerte sich Johannes. Auf der Reise von Moskau hierher, hatten sie in der Nähe Halt gemacht. Die Mehlfuhren kamen von dort, es war ein altertümliches Städtchen, etwa dreißig Meilen von der Newamündung in Richtung Moskau.
»Geschwätz war es, nichts weiter, Herr«, sagte ein Bauer mit rotem Haar. Er lächelte unterwürfig und hob die Schultern. »Nehmt es nicht ernst und verzeiht uns, Herr. Der Hunger treibt uns zuweilen Flüche auf die Lippen.«
Furcht leuchtete in den Gesichtern der anderen auf. Johannes schob seine Fäuste in die Hosentaschen. Zehn Augenpaare verfolgten jede seiner Bewegungen, als er mitten durch die Front hindurchschritt und ins Haus ging.
* * *
Er kam erst zur Ruhe, als es Nacht wurde. Iwan schlief heute nicht in der Stube, sondern hatte sein Lager bei den Gehilfen in der Werkstatt aufgeschlagen. Inzwischen war es schon Ende Juli und die Nächte wurden düsterer. Leise holte Johannes einen Kerzenstummel hervor, den er seit seiner Reise nach Russland in einem Kästchen aufhob, und zündete den geschwärzten Docht an. Die kleine Flamme trieb im Dämmerlicht wie ein Irrlicht im Moor. Nebenan redete Onkel Michael im Schlaf und warf sich auf seinem Lager herum.
Johannes rutschte zur Wand, lehnte sich gegen das Holz und vergrub das Gesicht in den Händen. Endlich konnte er sich eingestehen, dass er Angst hatte.