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Warum hatte Mitja den Brief zerstört? Auch wenn nichts Wichtiges darin geschrieben stand, fühlte es sich an, als hätte der Narr die sanfte Kaufmannstochter vor Johannes’ Augen geohrfeigt.

Nach einer Weile stand Johannes auf und hob behutsam den Deckel von der Bank, auf der er sein Lager aufgeschlagen hatte. Der schmale Fußteil diente auch als Truhe, in der er seine wenigen Habseligkeiten verstaut hatte. Ganz unten, unter den Winterstiefeln und der Pelzmütze, die ihm Marfa für seinen ersten Winter in Moskau hatte anfertigen lassen, lag eine Holzkiste. Sorgfältig hatte Johannes sie in einen Wollschal gewickelt. Nun holte er das Kästchen hervor und öffnete es behutsam. Im blinzelnden Kerzenlicht erkannte er die wohl vertrauten Kanten abgegriffener Briefe. Viele waren es nicht, lediglich ein halbes Dutzend, aber sie in die Hand zu nehmen war so, als würde er seine Familie wieder umarmen können.

Die ungelenke Schrift seines Bruders prangte auf gelblichem Grund. Eine grobe Feder hatte an einigen Stellen Fasern und Fetzen aus dem Papier geschabt.

Simon hatte harte Hände gehabt und nie richtig schreiben gelernt. Allerdings war er zu stolz gewesen einen Schreiber anzuheuern. Der letzte Brief von ihm war aus Hamburg gekommen. Simon erzählte darin von den Arbeiten auf dem Schiff und einem Fass mit verdorbenem Wasser, das stank wie eine Kloake. Der Brief kam gleichzeitig mit der Nachricht, dass das Schiff während eines Sturms gesunken war. Johannes strich mit der Hand das Papier behutsam glatt.

Der alte Kummer begann in seiner Brust zu pochen. Simon, sein Bruder! Ein anderer Brief war von seinem Vater und ein alter, sehr abgegriffener von Onkel Michael. Vor vielen Jahren hatte Michael ihn an Johannes’ Vater geschrieben. Eng beschrieben war er, fehlerhaft und mit so vielen russischen Ausdrücken durchsetzt, dass er Johannes erschienen war wie der Brief eines fremden, exotischen Wesens. Lächelnd betrachtete Johannes die Zeichnung eines Perückenstocks, den Michael für einen deutschen Gesandten angefertigt hatte. Damals arbeitete Michael noch im Dienst eines Tischlers und Kistenmachers.

Die besten Kisten stellte jedoch Michael her. Unter der Schrift war ein quadratisches Kästchen abgebildet. Akkurat ausgeführt war die Zeichnung eines ungewöhnlichen Wappens. Ein Adliger hatte dieses Meisterstück in Auftrag gegeben. Die Intarsien zu schnitzen musste viel Arbeit gewesen sein.

Ganz hinten, gut versteckt zwischen zwei Blatt Papier befand sich Christines Bildnis. Geheimnisvoll und sanft lächelte sie ihm zu, aber selbst die Russalka erschien ihm wirklicher als das Mädchen, um das er sich in Moskau so sehr bemüht hatte.

* * *

Die Müdigkeit machte ihm zu schaffen, trotzdem schlug er schon in der nächsten Nacht den Weg zum Newaufer ein. An der Weide fand er Jewgenij nicht, also lief er weiter stromaufwärts. Weit hinter sich hörte er die Stimmen der Stadt. Der Wind stand so günstig, dass die fernen Rufe der Arbeiter, die ihre Nachtschicht hinter sich brachten, bis zu ihm getragen wurden. Schläfrig schaukelte ein kleineres Transportboot in Richtung Haseninsel. Die Nacht war bereits so düster, dass Johannes mehrmals stolperte. Schon glaubte er, dass er Jewgenij heute nicht treffen würde, als er am Ufersaum etwas Helles aufblitzen sah. Buschwerk versperrte ihm die Sicht, aber als er näher heranging, sah er, wie sich etwas hinter den Zweigen bewegte. Beinahe hätte Johannes nach Jewgenij gerufen, doch eine vertraute Stimme ließ ihn verdutzt innehalten.

»Webwerk ist Tagwerk«, sagte Mitja leise.

Eine Frau lachte leise auf. »Tagwerk ist Nachtgarn und der Mond rollt durch Adern voll Glut.« Ihre Stimme klang angenehm und melodiös, dabei aber tonlos wie das Rauschen der Newa an einem windigen Tag.

»Ja!«, beteuerte der Narr. »Aber weil Senja kein Stroh frisst, gibt sie den Faden an Kalamow. Kalamow aber verschluckt das Kreuz.«

»Unsinn«, erwiderte die Fremde. »Kalamow hat nie ein Kreuz getragen.«

»Aber eine Kette aus Schädeln …«

»… und Fingerknochen um seinen Hals«, ergänzte sie. »Heimlich nagt er sie ab, wenn der Kater nicht hinschaut!« Mitja kicherte, als hätte er einen gelungenen Scherz gehört.

Johannes hielt die Luft an. Hier unterhielten sich zwei Verrückte. Vorsichtig schlich er näher heran.

Immer noch sah er nichts, deshalb lehnte er sich gegen einen dickeren Ast und beugte sich so weit vor, bis er beinahe das Gleichgewicht verlor. Der Anblick der Szene raubte ihm fast den Atem. Die marmorschöne Gestalt der Russalka trieb zwischen den Weidenzweigen. Ihre rechte Schulter ragte aus dem Fluss. Unter Wasser leuchteten ihre Brüste wie zwei Monde. Ein Abglanz ihrer Schönheit verklärte das Gesicht des Narren, der am Ufer kniete. In diesem Moment hätte er ein junger Soldat sein können, der seine Geliebte traf. Angst fuhr in Johannes’ Magen – was, wenn Mitja die Russalka an Derejew oder jemand anderen verriet?

»Gott lebt im Wasser«, sagte Mitja mit tiefem Ernst.

»Die Kater heulen in der Nacht, das Wasser wartet, aber es wartet nicht lange genug. Eine Heuschrecke frisst meine Hand und sie wächst wieder nach!«

Er streckte seine Hand aus und die Russalka ergriff sie ohne zu zögern. Staunen ließ das Gesicht des Narren beinahe schön aussehen. Niemand verstand, was er gesagt hatte, aber die Nixe sah ihn an, als hätte er sie etwas gefragt, über das sie nun konzentriert nachdachte. »Nein«, sagte sie schließlich sanft, aber sehr bestimmt. »Nein, Mitja!«

In diesem Moment brach der Buschast. Dornen kratzten über Johannes’ Arme, das Geräusch von reißendem Stoff zerstörte die Stille. Er war völlig perplex, als ihn ein Schwall Wasser traf und von Kopf bis Fuß durchnässte. Ertappt sprang er auf und strich sich die Haare aus der Stirn. Mitjas Soldatenrock bauschte sich auf der Wasseroberfläche und verschwand. Im Schock stand Johannes da. Seine Gedanken überschlugen sich – die Russalka hatte den Narren in die Tiefe gezogen! Im nächsten Moment sah er sich einem tropfenden Mitja gegenüber, der ans Ufer geworfen war wie ein Stück Treibholz. Der Narr hustete und spuckte mindestens einen Krug voll Brackwasser aus.

»Du hast mich erschreckt«, sagte die Stimme der Russalka. Ärgerlich tauchte sie unter und kam unmittelbar vor Johannes wieder aus dem Wasser. Zum ersten Mal konnte er ihre farblosen Lippen betrachten und die verwirrenden Augen, pupillenlos und so schwarz wie Kohlestücke. Der Kontrast zwischen ihrer Haut und dem schwarzen Haar war stechend.

Unter Wasser glänzten Schuppen.

»Habe ich dich dabei gestört, den Gottesnarren zu ertränken?«, brachte Johannes hervor. Beim Klang von Johannes’ Stimme rappelte sich Mitja auf. Sein Gesicht verzerrte sich zu der wütenden Fratze, die Johannes nur allzu gut kannte.

»Nicht«, sagte die Nixe. Johannes wurde Zeuge, wie dieses einfache Wort einen Wahnsinnigen, der ihm ohne zu zögern an die Kehle gegangen wäre, im Zeitraum eines Fingerschnippens in einen sanftmütigen Menschen verwandelte. Ein letztes Mal musterte der Narr Johannes, dann rang er die Hände, wandte sich um und ging fluchend auf den Wald zu. Die Russalka sah ihm mit sanften Augen nach.

»Was wird er tun?«, flüsterte Johannes.

»Nachdenken«, erwiderte sie. »Er denkt viel über diese Stadt nach – über den Zaren, den Fluss und die Zeit, auch über dich.«

Der Schreck, der sich für eine Weile mit sich selbst beschäftigt hatte, wurde aufmerksam und trabte wieder herbei. »Er wird dich verraten«, rief Johannes. »Er ist ein Narr! Wie kannst du mit ihm sprechen?«

Mit einer energischen Bewegung stieß sie sich vom Ufer ab und ließ sich ein Stück in das dunkelgrüne Wasser treiben. Weiße Knie erschienen an der Wasseroberfläche wie neugierige Fischmäuler. Für einen Moment war Johannes irritiert keinen Fischschwanz zu sehen. »Er ist der Einzige, mit dem man vernünftig reden kann!«, erwiderte sie in tiefem Ernst. »Mitja und ich teilen unsere Träume.«

»Du verstehst, was er sagt?«

»Wie kann man Mitja nicht verstehen?«