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»Nun, er ist verrückt!«

Erstaunt sah sie ihn an. »Er ist der Vernünftigste von allen! Er weiß lediglich nicht, was Traum und was Wirklichkeit ist.«

Dazu fiel Johannes nichts ein. Er blickte sich um und betrachtete die Gestalt in dem nassen Soldatenmantel, die sich stapfend immer weiter von ihnen entfernte. »Was wollte er von dir?«, fragte er die Russalka.

Sie seufzte. »Ins Wasser möchte er kommen. Aber wenn ich ihn mitnehme, ist er nicht mehr Mitja.«

»Verwandelt er sich in einen von euch?«

Ihr Lachen war spöttisch. »Nein, nur in einen Leichnam«, erwiderte sie trocken. »Seine Seele flüsterte im Wasser und ich könnte mit ihm sprechen, aber er würde nie wieder Gras sehen oder den Himmel, nie wieder würde er den Wald sehen, den er so liebt.«

Mitja liebt also den Wald, dachte Johannes staunend. Und am allermeisten scheint er die Russalka zu lieben.

»Wenn du Jewgenij suchst – er ist nicht hier«, fuhr die Russalka fort. »Er hat mir gesagt, dass du mich für ein Monster hältst.« Leise ließ sie sich in die Tiefe sinken. Mit einer Schlängelbewegung pflügte ein glitzernder Aalleib durch das Wasser und schlug wie ein zappelnder Fisch nach Johannes’ Fuß. Die Nixe warf sich herum und tauchte ab – Zeit genug für Johannes, ihren Rücken zu bewundern. Eine wellenförmige Flosse teilte ihn, die auf Hüfthöhe in den Aalleib überging. Silberschuppen glänzten auf und verschwanden. Johannes erahnte unter den Wellen ein ausdrucksloses Fischgesicht mit kräftigen Kiefern und gefährlich aussehenden Zähnen. Lauernd sah ihn der Raubfisch an. Johannes stolperte ein paar Schritte zurück. Das bedrohliche Wesen durchstieß die Oberfläche und vor ihm stand wieder die Russalka im Wasser. Plötzlich brach sie in ein Lachen aus, das wie eine übermütige Welle über ihn hinwegschwappte. »Du solltest dich sehen, was für ein Gesicht du machst.«

»Hör auf«, sagte Johannes barsch. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass diese Nixe bis auf den Grund seiner Gedanken sehen konnte.

»Wo willst du hin?«, rief sie.

»Du … du warst ein Raubfisch. Und Jewgenij sagte …« Er kam sich töricht vor.

Die Russalka lächelte katzengleich. Ihre Arme lagen wie bleiche Adern unter der glänzenden Haut des Flusses. »Ich bin Fisch, Fleisch, Teufelswerk oder Engelsgesicht. Blut kann köstlich sein.« Sein schockiertes Gesicht ließ ihr Lächeln noch breiter werden.

Er war sich nicht sicher, ob sie scherzte oder die Wahrheit sprach. Sein Schaudern sagte ihm, dass die Wasserfrau etwas viel Älteres und Gefährlicheres war, als sich sein Zimmermannsschädel je vorstellen konnte.

»Aber du bist … Jewgenijs Freund, und das genügt mir, um dir niemals etwa zuleide zu tun.« Gegen seinen Willen musste Johannes sich eingestehen, wie sehr es ihn freute, dass Jewgenij ihn als Freund bezeichnete. »Du machst dir gerne Bilder, Johannes, nicht wahr?«

»Ich glaube an das, was ich sehe. Zumindest war es bisher so.«

Sie beobachtete, wie er sich verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, und bewegte die Arme im Wasser. Es sah aus, als würde sich ein träger Fisch mit den Flossen im Gleichgewicht halten. Die Wasserströmung spielte mit dem langen Haar, trieb es in anmutigen Wellen gegen die Haut.

Johannes wurde sich bewusst, dass er sie anstarrte.

Offensichtlich verstand sie seinen Blick als Einladung, denn sie erhob sich und watete mit wenigen Schritten ans Ufer. Der Aalschwanz war verschwunden, stattdessen kamen zwei lange Beine zum Vorschein. Wasser umhüllte die Russalka wie ein glänzender Mantel, als sie ans Ufer kletterte und sich aufrichtete. Johannes blinzelte irritiert, wollte wegschauen, konnte aber den Blick nicht abwenden. Er hatte nackte Frauen gesehen – nicht weit von Moskau entfernt badeten die Leute im Flüsschen Jausa, selbst die russischen Mädchen schämten sich nicht, sich dabei auszuziehen. Aber dieses Mädchen hier war anders. Im Licht der weißen Nacht leuchtete ihr Körper wie poliertes Elfenbein. Sie hatte den Blick eines Raubtiers, das sich mit geschmeidigen Schritten seinem Opfer nähert.

»Bist du verrückt?«, rief er. »Man kann dich sehen!«

Mit einer neckischen Geste strich sie sich das Haar über die Schulter, sodass es ihren Körper verbarg.

»Was wir sehen, bedeutet nichts. Gar nichts! Erinnerst du dich? Du hast eine Tote erwartet und eine Tote gesehen. Für die Arbeiter da drüben bin ich ein Nebelschweif.«

»Die Bauern haben die Russalnaja-Zeremonie abgehalten, um dich in den Fluss zu bannen«, bemerkte er, um die Peinlichkeit der Situation zu überspielen.

Das weiße Mädchen blieb stehen. Der schwarzgrüne Schimmer ihres Haars verlockte ihn, die Hand danach auszustrecken. In diesem Moment überfiel ihn die Sehnsucht, brannte sich in seine Brust wie das Messer eines Wegelagerers. An jedem anderen Tag hätte er gedacht, es sei die Sehnsucht nach Christine, nun aber schämte sich ein Teil von ihm zuzugeben, dass es einfach die Sehnsucht war, diese Frau hier zu umarmen. Nicht Christine, nein, diese Fremde, deren Lächeln wie Honig war. Ein anderer Teil seines Verstands ließ ihn zögern. Erst jetzt bemerkte Johannes, dass kein Tier in der Nähe war.

Nicht einmal ein Blatt raschelte.

»Diese albernen Zeremonien werden uns niemals davon abhalten, dorthin zu gehen, wo wir wollen«, sagte sie.

Sie war so weit herangekommen, dass Johannes den schwachen Tanggeruch ihrer Haare wahrnahm.

Die klare Schönheit ihres Gesichtes hielt ihn gefangen. »Wir dürfen nicht sein«, flüsterte sie. Die Melodie ihrer Stimme war eine schmeichelnde Welle, die seine Bedenken einfach davontrug. Dennoch ließ ein letzter Zweifel ihn zögern. Etwas wie Mordlust irrlichterte in ihren schwarzen Augen. »Sieh sie dir an«, erwiderte das weiße Mädchen und streckte die rechte Schulter nach vorne, auf der sich eine Narbe abzeichnete. »Diese Wunde hat deine Stadt mir geschlagen. Ich wurde nur verwundet, andere werden zerstückelt durch die Spitzen eurer Pfähle oder sterben durch eure Waffen. Der Grund der Newa gleicht einem Schlachtfeld, Eisen tötet uns.«

Ihr böses Lachen rieselte über seine Haut und be-wirkte, dass sich jedes Härchen in seinem Nacken aufstellte. Ihm schien, als würde Ärger ihre Augen noch dunkler färben, mit einem Mal konnte er sich vorstellen, wie der geschwungene Mund, der an den Bogen zweier Schwalbenflügel erinnerte, Fische fing und zerfetzte. Und nicht nur Fische.

Er fühlte sich benommen wie im Fieber, ein Teil seines Verstandes sagte ihm, dass er verloren war, aber zu seiner Überraschung zischte das Mädchen leise und trat einen Schritt zurück. Die Betäubung fiel von ihm ab wie ein zu schwerer Mantel. Er blinzelte. »Weißt du, was Zar Peter mit dir tun wird, wenn er dich findet?«

Schlagartig wurde sie ernst. »Kennst du ihn – den Zaren?«

»Manchmal bin ich ihm begegnet – in Moskau, wenn er in die Vorstadt kam. Und von weitem sehe ich ihn oft, wenn er bei der Werft ist.«

»Wer ist er?«

»Na, der Großherr und Großfürst, Selbstherrscher von Groß-, Weiß– und Kleinrussland!«

»Das meine ich nicht. Ich will wissen, was für ein Mensch er ist.«

Johannes runzelte die Stirn und suchte nach Worten. Noch nie hatte ihn jemand nach einer solchen Einschätzung gefragt.

»Nun«, meinte er schließlich. »Er ist sehr wissbegierig -und er ist nicht nur der Zar, sondern auch Drechsler und Schiffszimmermann, Feuerwerker und Kupferstecher. Sogar Zähne ziehen hat er gelernt.«

Er räusperte sich. »Er ist ein sehr eifriger Zahnarzt, und alle, die in seiner Nähe sind, versuchen es zu verbergen, wenn sie Zahnschmerzen haben, aus Angst, dass er ihnen den Zahn sofort herausbricht.«

»Also ist er nicht sehr rücksichtsvoll.«

»Aufbrausend ist er – so wie viele Herrscher. Vor ihm darf man keine Schwäche zeigen.«

»Was heißt das?«

»Nun, einmal zum Beispiel war der Bojar Golowin bei ihm zu Gast. Er lehnte einen Salat ab, weil er keinen Essig verträgt. Da ließ Zar Peter ihn festhalten und stopfte ihm Essigsalat in die Nase, bis er Nasenbluten bekam. Der Zar ist groß und ungeduldig.