Er ist grausam, aber auch sehr klug.«
»Ist es klug von ihm, diese Stadt zu bauen?«, spottete sie.
»Ihr werdet es nicht verhindern«, antwortete er.
»Wie viele gibt es von euch – fünfzig? Hundert?«
»Ein Schwarm hat keine Zahl«, sagte sie leise.
»Früher waren wir so viele mehr, aber wir sterben.
Eure Gegenwart vergiftet uns. Wenn wir uns in diesem Winter in den Newaschlamm legen, um bis zur Schneeschmelze zu schlafen, werden wir nicht mehr erwachen.«
»Jewgenij sagte mir, ihr könnt das Newadelta nicht verlassen.«
Sie seufzte. »Wie gerne würden wir fliehen. Es wird Zeit, dass wir in die Tiefe zurückkehren. Ins Herz der See zu den anderen. Aber wir sind gebunden durch ein Versprechen, das wir vor langer Zeit gegeben haben. Unsere Leben gegen ein Menschenleben. Ein Leben schulden wir unserem Retter. Solange diese Schuld nicht beglichen ist, müssen wir hier warten.«
»Wem habt ihr das Versprechen gegeben?«
»Es ist so lange her, dass der Name sich in den Wellen verloren hat.«
»Ihr wisst nicht einmal mehr, wem ihr das Versprechen schuldet? Was ist, wenn er längst tot ist?
Wie lange ist es her?«
Unsicherheit huschte über das weiße Gesicht.
»Dreihundert Sommer?«
»Was?« Johannes war entsetzt. »Dann ist er längst tot!«
Die Nixe schüttelte den Kopf. »Ich höre sein Blut rauschen in der Nacht. Immer näher kommt es der Stadt. Der Pakt bindet uns, in die Zeit gewoben ist das Versprechen. Er trägt … das Pfand mit sich. Wir träumen davon.«
»Was ist das für ein Pfand?«
Abwesend glitt ihr Blick über Johannes’ Hände, die von der Arbeit am Holz kräftig und sehnig waren.
»Ein Schatz, den ich nicht benennen darf. Das Wort hütet sich selbst, es ist Teil des Paktes. Es ist ein Schatz, der älter ist als wir. Nur sieben gibt es davon.
Sechs sind zurückgekehrt an den tiefsten Ort im Meer. Nur wir harren hier aus. Ohne den Schatz sind wir Verstoßene. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, verstoßen zu sein?«
Johannes seufzte. Ihm fiel ein, wie flüchtig sein Vater ihn verabschiedete hatte. Hier war er ein Ketzer, in der Deutschen Vorstadt ein nicht standesgemäßer Bewerber um Christine.
»Ich träume von einem Mann, der uns befiehlt«, wisperte die Russalka. Ihr Mund verzog sich vor Verachtung. »Wir müssen ihm gehorchen, um das Unterpfand zu bekommen. Früher, als unser Volk noch stark war, da formten wir das Wasser zu Bergen und stürzten ganze Länder in den Schlund des Meeres. Heute sind wir schwach, ein sterbendes Volk, das nur noch den Wunsch hat, sich zurückzuziehen.«
Der Brief
Schon als Johannes über den Vorplatz zur Werkstatt ging, wusste er, dass sich etwas verändert hatte. Die Arbeiter wagten nicht ihn anzusehen, Flüstern lag in der Luft. Verstohlen musterte Johannes die Männer, die ihn gestern noch eingekreist hatten. Wahrscheinlich fürchteten sie sich davor, dass er seine Drohung wahr machen könnte. Johannes suchte nach dem Einäugigen, der die Verwünschung gegen den Zaren ausgestoßen hatte, aber er war nicht hier.
»Wo ist der einäugige Kerl mit dem grauen Bart?«, fragte er Michael.
Sein Onkel, der gerade eine Werkbank reinigte, runzelte die Stirn. »Fort«, brummte er. »Schon heute Morgen. Ich habe Marfa losgeschickt um eine Meldung zu machen.«
»Er ist doch nicht etwa geflohen!«
Onkel Michael zuckte die Schultern. »Ich denke, doch. Armer Teufel. Aber wir müssen es melden, jeder weiß, dass er weg ist. Marfa ist schon zur Festung gegangen. Zumindest hat er ein paar Stunden Vorsprung.«
Mit einem Mal war Johannes elend zumute. Die Flucht des Leibeigenen war seine Schuld. Er hatte ihm Angst eingejagt. Wenn die Aufseher ihn fingen, würden sie ihn zurückschleppen und so schwer bestrafen, dass er danach mehr tot als lebendig wäre – im schlimmsten Fall drohte ihm die Hinrichtung. Er bemerkte, dass Iwan ihn über eine Säge hinweg, die er gerade mit einem geölten Lappen abrieb, anstarrte.
Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass Iwan ebenfalls allen Grund hatte, den Zaren zu hassen.
Die Arbeit erschien ihm anstrengender als sonst.
Die Nachmittagssonne ließ den Sägestaub leuchten wie einen Schleier, der durch die Luft gewirbelt wurde. Johannes zimmerte Querstreben für die Gerüste, Trittbretter und Winkelstützen. Er vermaß Stützklötze, trieb Nägel in duftendes Buchenholz und band die beschrifteten Holzstapel so zusammen, dass Trezzinis Schauerleute sie am nächsten Tag in der richtigen Reihenfolge auf– und abladen konnten.
Mitja ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken, dafür sah Johannes durch das Werkstattfenster, wie Marfa gegen Abend von der Festung zurückkam und schnurstracks ins Haus ging. »Ich brauche mein Schnitzmesser«, sagte Johannes schnell und rannte über den Vorplatz. Marfa zuckte zusammen, als er die Stube betrat. Still saß sie am Tisch, die Ellenbogen aufgestützt, und starrte ihn an. Ihm fiel auf, wie blass sie war. »Was ist passiert?«, rief er.
»Sch!«, zischte sie. »Schrei nicht gleich die ganze Werkstatt herbei.« Sie schluckte und rieb sich die Augen so heftig, dass Johannes zum Tisch sprang und ihre Handgelenke umfasste. »Marfa«, sagte er sanft. »Bitte erzähl mir, was los ist! Hat es etwas mit dem Leibeigenen zu tun?«
Heftig schüttelte sie den Kopf. »Nein … ich weiß nicht. Sein Besitzer wird verständigt. Es ist nicht unsere Sache. Nein … ich habe nur etwas gesehen.«
»Was, Marfa?«
Heute waren ihre Augen schmelzendes, brüchiges Eis, Marfas Härte rann davon und ließ eine verängstigte Frau zurück. Johannes erschrak darüber, wie sehr ihn ihre Schwäche verunsicherte.
»Eine Katze«, sagte sie tonlos. »Bei Thomas Rosentrost. Ich wollte neue Salbe holen für Michaels Rücken – und dann hat Thomas mir die Katze gezeigt …«Sie holte Luft und Johannes fragte nicht weiter, sondern ließ ihr Zeit, ihre Worte zu finden.
»Die Zunge hing ihr aus dem Maul. Thomas sagte, sie habe vor seiner Tür gelegen.«
»Na und? Einem Arzt, der Tiere präpariert, bringen Leute dauernd tote Tiere. Vielleicht ist sie vor seiner Tür verendet.«
Heftig schüttelte Marfa den Kopf. »Die Katze wurde ertränkt. Bei uns hing auch eine … vor einigen Tagen. Ich habe sie abgehängt und weggebracht.«
»Bei uns? Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich wollte nicht, dass Michael es weiß. Ich hoffte, es wäre nur ein grausamer Scherz.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern. »Auch diese Katze hat jemand ertränkt. Und dann aufgehängt. An einem Nagel – bei uns an der Tür. Ich wachte nachts auf, weil ich ein Klopfen hörte. Du … warst nicht auf deinem Lager. Ich ging vor die Tür, aber alles, was ich fand, war die Katze. Weißt du, was das bedeutet?«
Johannes dachte angestrengt nach. Es kam ihm bekannt vor; in Moskau hatte er Malereien gesehen, die unter strengster Geheimhaltung von Hand zu Hand gingen. Sie zeigten einen Kater – einen Kater mit einem langen Schnurrbart. Plötzlich wurde ihm kalt. »Der Zar? Leute, die ihn verhöhnen, nennen ihn einen deutschen Kater. Weil er einen Schnurrbart trägt. Meinst du … jemand droht dem Zaren?«
»Wenn nicht dem Zaren, dann uns«, sagte Marfa.
»Es war eine Drohung. Ich habe lange mit Thomas gesprochen. Immer wieder tauchen die Katzen auf.
Johannes, du weißt, dass es in der Stadt mehr goldene Kälber als Katzen gibt -jemand muss sie von irgendwoher herbeischaffen.«
Schaudernd dachte Johannes an den Leibeigenen, der ihm gestern gedroht hatte. Also hatte er doch von einer Verschwörung gewusst. Plötzlich fühlte er sich nackt und schutzlos. »Wir müssen es melden. Der Zar wird nicht zulassen, dass jemand gegen ihn ein Komplott schmiedet.«
»Oh, ich weiß«, sagte sie bitter. »Glaub mir, er wird keinen Stein auf dem anderen lassen, wenn er das erfährt.« Plötzlich sah sie ihn irritiert an. Im nächsten Augenblick griff sie nach seinem Arm.