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Vielleicht hat es diese Muschel, diesen Beutel und dieses Kästchen wirklich einmal gegeben, aber ich glaube, die Russalkas können lange warten.« Er seufzte tief. »Ich bin sicher, sie könnten die Newa verlassen, wenn sie aufhören würden an diese Prophezeiung zu glauben.«

»Aber sie glauben daran«, erwiderte Johannes.

Verstohlen betrachtete er seinen Freund von der Seite. Wenn die Russalkas nicht gehen, werden sie sterben, dachte er. Die einzige Möglichkeit, dass die Stadt ihnen nicht den Tod bringt, bestünde darin, sie erst gar nicht zu bauen. Der Einzige, der diese Stadt unbedingt bauen will, ist der Zar. Wäre der Zar tot, würden auch die Architekten in ihre Länder zurückkehren, ebenso die Soldaten, Kanalbauer und Knechte. War das der Gedankenweg, den die Verschwörer betreten hatten?

»Wie sehr hasst du den Zaren?«, fragte Johannes unvermittelt. Jewgenij hob ruckartig den Kopf. »Ich meine, wie weit würdest du gehen um die Russalkas zu retten. Den Zaren töten?«

»Den geraden Weg, Brehmow«, sagte Jewgenij mahnend. »Was willst du?«

»Ich weiß nicht. Ich dachte nur …«

Jewgenijs Augen verengten sich. Wut ließ seine Stimme beben. »Ach, jetzt verstehe ich!«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Der russische Fischer hat es auf den Zaren und auf euch abgesehen, natürlich.«

»Du betonst so oft, dass du mein Feind bist … und ich … ich weiß nichts von dir. Vielleicht bin ich nur ein Tölpel, der nicht bemerkt, dass er eine Spielfigur in einer Verschwörung ist.«

»Du weißt mehr von mir als jeder andere in dieser Höllenstadt!«, fuhr Jewgenij ihn an. »Meinst du, ich würde mit einem Feind hier herumsitzen? Mein Gott, Brehmow, ein Holzpfosten hat mehr Verstand als du.« Wütend klopfte er sich den Sand von den Hosen. »Verschwörung, so ein Quatsch!«

Johannes antwortete nicht. Niemals hätte er zugegeben, wie erleichtert er war, auch wenn Jewgenij ihn beleidigt hatte. »Jemand will uns töten«, erklärte er schließlich unumwunden. »Und vielleicht den Zaren. Ich will herausfinden, was es damit auf sich hat.

Irgendeine Verbindung gibt es möglicherweise zu den Russalkas. Du weißt nicht zufällig etwas über die ertränkten Katzen?«

Jewgenijs Erstaunen war echt. »Katzen? Wenn du Menschen gesagt hättest, dann hätte ich dir gesagt, dass meine Russalka durchaus etwas damit zu tun haben kann.« Er lachte leise auf.

»Mir ist nicht zum Lachen«, sagte Johannes scharf.

»Mir schon«, gab Jewgenij zurück. »Du prügelst dich wie ein Russe, arbeitest wie ein Sklave für den Zaren und fürchtest dich vor ein paar Verrückten, die so mutig sind eine Katze zu ersäufen? Deine Ausländervorstadt muss ein richtiges Mädchenzimmer gewesen sein. Nun, willkommen im russischen Zarenreich! Es wird nicht die letzte Drohung sein, die du im Leben zu sehen bekommst.«

»Vielleicht«, räumte Johannes ein. Plötzlich war ihm etwas wohler.

»Brehmow«, rief Jewgenij entschlossen. »Ich sage dir was: Wenn jemand dich auch nur antippt, dann versenke ich ihn höchstpersönlich genau hier. Er wird Schlamm fressen, bis er erstickt.«

Johannes lachte auf. Plötzlich zerfielen seine Sorgen wie eine Hand voll Sand im Wasser. Jewgenij hatte Recht. Viel zu schnell ließ er sich einschüchtern. Morgen würde er Bericht erstatten und Oberst Derejew und Zar Peter persönlich würden sich um die Angelegenheit kümmern. Er staunte, wie wichtig ihm Jewgenijs Freundschaft war. Noch nie hatte er zu einem Menschen ein solches Verhältnis gehabt, mit Ausnahme seiner Brüder vielleicht.

»Ist das alles, was es zu erzählen gibt?«, fragte Jewgenij. »Oder ist noch etwas wirklich Wichtiges in deinem Leben passiert?«

Selbst der Spott tat gut. Trotzdem beschloss Johannes Jewgenijs Hochmut eine kleine Lektion zu erteilen. »Hast du schon mal ein Mädchen geküsst?«, fragte er.

»Nein, wozu?«, erwiderte Jewgenij prompt.

»Ich schon.«

»Ach ja?«

Jewgenij gähnte demonstrativ und ließ sich zurücksinken. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen starrte er in den Himmel.

Johannes grinste. »Sie heißt Christine«, erzählte er weiter. Es war angenehm, ihren Namen auszusprechen, ohne von Marfa einen kritischen Blick dafür zu ernten.

»Sie ist die Tochter eines Kaufmanns und lebt in Moskau. Als ich wegfuhr, hat sie mir ein Bild geschenkt.«

»Na, du scheinst ja sehr verknallt zu sein. Und, liebt sie dich auch?«

»Ja, bestimmt.«

»Hat sie es dir gesagt?«

»Nicht direkt«, druckste Johannes herum. »Sie ist ziemlich schüchtern.«

»Genau das Richtige für ein Großmaul wie dich, was?«

»He!«

Lachend steckte Jewgenij den Hieb ein, der ihn am Arm traf. Flink wälzte er sich unter dem zweiten Schlag davon. »Wie hast du es angestellt? Musstest du sie einfangen und ihre Ärmel an die Tür nageln?«, fragte er aus sicherer Entfernung.

Johannes stellte fest, dass er errötete. Wie schaffte Jewgenij es, der Wahrheit so nahe zu kommen?

»Nun, so ähnlich«, gab er schließlich zu.

Endlich bekam Jewgenij große Augen. »Ah!«, sagte er und rückte wieder heran. Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht. »Jetzt wird es interessant!«

Johannes’ Wangen brannten noch mehr.

»Nun, in Moskau gibt es einen Osterbrauch«, begann er zögernd. »Vom Osterfest bis zum Tag der Himmelfahrt grüßt man die Leute auf der Straße mit einem roten Ei. Ein solches Geschenk darf niemand ablehnen. Und bedanken muss er sich mit einem Kuss. Dabei ist es gleichgültig, ob er ein Leibeigener, Bauer, Pope oder der Zar persönlich ist. Es gilt als Verbrechen, das Ei auszuschlagen oder den Kuss zu verweigern. Das habe ich Christine gesagt …«

»Was für ein guter Trick«, meinte Jewgenij trocken. »Und war deine Christinka dann glücklich?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Johannes wahrheitsgemäß. Christine war rot geworden und hatte gelächelt. Aber im Grunde genommen hatte sie fast immer gelächelt.

»Ist sie hübsch?«, bohrte Jewgenij weiter. Seine Stimme klang so gnadenlos gelangweilt, dass Johannes sich ärgerte.

»Schöner als eure Weiber hier allemal.«

»Schöner als die Russalka?«

Warum hatte er plötzlich das Gefühl, Christine verteidigen zu müssen? »Wenn du sie sehen würdest, du würdest dich sofort in sie verlieben.«

Jewgenij gab ein Schnauben von sich. Nachdenklich betrachtete er die Wolkenfetzen, die über den Himmel trieben. Johannes fand, sie sahen aus wie die Lateinersegel riesiger Schiffe.

»Ich kenne eine, die ist viel schöner als deine Christinka.«

»So?«

»Ja, die wunderschöne Jelena.«

Johannes lachte. »Die gibt es nur im Märchen, Jewgenij.«

»Na und?« Jewgenij lächelte. Seine Stimme bekam einen weichen Klang. »Sie lebte hinter dreimal neun Ländern, im dreimal zehnten Zarenreich. Schön war sie wie die Morgensonne, ihr Haar war Seide und ihre Lippen zwei rote Blütenblätter. Lange Zeit lebte sie bei der grausamen Hexe Baba Jaga. Kennst du die Baba Jaga? Ihr Häuschen steht auf einem Hühnerbein und dreht sich, wohin die Hexe will. Auf ihrem Gartenzaun hat sie abgeschlagene Köpfe aufgespießt. Aber Jelena behielt ihr Leben. Und als der böse Koschtschej, der Knochige, sie entführte, da rief sie nicht um Hilfe, nein, sie überlistete Koschtschej und floh.«

Er lächelte verschmitzt. »Eine wie Prinzessin Jelena würde mir gefallen.«

»Eine Prinzessin, die einen Fischerjungen liebt!

Darauf kannst du in alle Ewigkeit warten. Nun, ich bleibe lieber bei Christine!«

»Und sie lebten glücklich und häuften großen Reichtum an«, spottete Jewgenij. Er klang verärgert.

Hastig stand er auf und ging zu seinem Boot. »Hast du ein Messer dabei?«, fragte er barsch.

Johannes fuhr mit der Hand in seine Hosentasche, fühlte das abgegriffene Leder der Hülse und nickte.

»Dann komm«, sagte Jewgenij. »Oder fürchtest du dich auch vor toten Fischen?«