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Derejew sah ihn scharf an. »Sag du es mir. Sie ist aus eurer Werkstatt verschwunden.« Johannes war überrumpelt von der Aufrichtigkeit des Obersts.

Argwöhnisch beobachteten ihn die braunen Augen.

»Wenn Ihr es nicht wisst, warum habt Ihr dann gesagt, ihre Verwandten hätten ihren Leichnam abgeholt?«

»Ich weiß nicht, ob du es begreifst, Zimmermann.

Ich habe dir einen Gefallen getan. Wer nahe am Feuer, der nahe am Brand. Ihr seid der Flamme schon sehr nahe gekommen.«

»Was soll das heißen?«

»Der Zar schätzt euch, die Architekten kennen die Arbeit deines Onkels. Aber du kennst den Zaren nicht«, sagte er und beugte sich vor. »Du hast doch in Moskau gelebt. Erinnerst du dich nicht mehr an die jährliche ›Wahnsinns-, Spaß– und Saufsynode‹, die er mit seinen Freunden in den Straßen abhält?«

Natürlich erinnerte sich Johannes an den Mummenschanz, bei dem sich Zar Peters Freunde als Patriarch, als Metropoliten, Archimandriten, Popen und Diakone verkleideten und mit den Abzeichen kirchlicher Würde angetan singend und marodierend durch die Straßen zogen. Zar Peter trat meist als Schiffstrommler oder friesischer Handwerker auf.

»Er verhöhnt den alten Glauben«, fuhr Derejew fort. »Auch dir dürfte nicht entgangen sein, dass er für euch Fremde oft mehr übrig hat als für sein eigenes Volk. Er ist furchtlos, aber eines fürchtet er mehr als alles andere: Verrat. Deshalb stich in das Wespennest und du wirst sehen, was geschieht. Wenn es um Verrat geht, ist niemand vor seinem Zorn sicher.«

Er machte eine effektvolle Pause. »Auch ihr nicht.«

Er atmete tief aus und schien sich zu sammeln. »Ich kann nicht behaupten, es sehr zu schätzen, dass so viele Fremde hier sind. Aber der Zar ist mein Herr und ich habe nicht über seine Befehle zu urteilen.

Und deshalb sage ich dir: Sieh dich vor mit Verdäch-tigungen und Anklagen. Wenn der Wind sich dreht und irgendjemand wittert, dass du selbst daran beteiligt sein könntest, dann wirst du unter der Folter alles zugeben, was Zar Peter hören will.« Er lächelte freundlich.

Johannes war mit einem Mal nüchtern. »Das ergäbe keinen Sinn«, ereiferte er sich. »Ich bin fremd hier. Ohne den Zaren hätte ich hier nichts zu suchen.

Warum sollte ich an einer Verschwörung gegen ihn beteiligt sein?«

»Es reicht schon viel weniger als eine Verschwörung. Jemand könnte bezeugen, dass du Spottlieder auf den Zaren singst. Jemand könnte eins der Bilder bei euch finden, auf denen der Zar als Kater abgebildet ist.«

Johannes konnte sich nicht entscheiden, ob er eine gut gemeinte Warnung oder eine versteckte Drohung hörte. Der Boden unter seinen Füßen erschien ihm wie ein schwankendes Gerüst, auf dem er keinen Halt fand.

»Ich weiß nicht, wer das Mädchen war und wie es zu Tode kam«, schloss Derejew. »Das ist die Wahrheit und die wirst du für dich behalten. Ich dachte, sie wäre eine Adlige, und diese Meldung wäre über kurz oder lang beim Zaren gelandet. Vielleicht gehörte sie zu den Narren, die versuchen die Stadt wieder einzureißen und die das Tagwerk der Brückenbauer vernichten. Was für ein nutzloses Unterfangen!«

Johannes entspannte sich. Die Worte klangen logisch. Vielleicht hatte Derejew Recht. Mit einem Mal erschien ihm der Oberst längst nicht mehr so beängstigend und unberechenbar. In diesem Augenblick fand die Welt, die seit dem Auftauchen der Russalka so sehr aus den Fugen geraten war, wieder in ihren Lauf zurück. Er hatte sich geirrt. Derejew wusste nichts von der Russalka. Zumindest hatte er nun einen Feind weniger. Er erwiderte Derejews Lächeln und fühlte sich, als sei eine schwere Last von seinem Rücken gerutscht. Zum ersten Mal gestand er sich ein, dass er wirklich an einem falschen Bild festhielt. Überall sah er nur ungeschlachte Moskowiter und intrigante Leibeigene, aber Derejew war ein Adliger. Er hatte vielleicht studiert und Bücher gelesen. Zweifellos war er weitaus gebildeter, als Johannes es je sein würde.

»Nun, dann wollen wir sehen, was deine Tante mir schreibt«, sagte Derejew versöhnlich und beugte sich über den Tisch.

Johannes betrachtete die Hände des Obersts. Sie waren sehnig und schön geformt, man sah ihnen nicht an, dass sie Waffen hielten und die Peitsche schwingen konnten. Als Derejew nach Marfas Brief griff, der am Rand des Schreibtisches lag, rutschte der Uniformärmel ein Stück zurück. Helle Haut kam zum Vorschein. Im ersten Augenblick fiel Johannes nur auf, dass Derejews Hand dort, wo die Sonne hinkam, viel dunkler war als am Unterarm. Das Zweite, was er sah, waren die Kratzer. Sie waren so akkurat gezogen wie mit dem Lineal, vier tiefe, parallele Risse. Kratzspuren, wahrscheinlich von einer Katze. Im nächsten Moment rutschte der Ärmel wieder zurück wie ein Vorhang in einem Spielmannszelt. Oberst Derejew lehnte sich zurück und entfaltete den Brief.

Johannes begann zu schwitzen. Es konnte Zufall sein. Die Kratzer konnten von etwas anderem stammen – und selbst wenn eine Katze Derejew diese Verletzungen beigebracht hatte, was bedeutete das schon? Dennoch, das pochende Gefühl der Bedrohung sagte ihm etwas ganz anderes. Er saß mitten in der Wolfshöhle. Er leckte sich über die Lippen, die trocken wie Sägemehl waren, und wagte kaum zu atmen. Gleich würde Derejew von dem Brief aufblicken und erkennen, dass Johannes die Kratzer gesehen hatte. Wie hatte er so dumm sein können, dem Oberst zu glauben? Angst wallte in ihm auf, als er sich an den Leibeigenen erinnerte. Mit plötzlicher Klarheit wusste er, was mit dem Mann geschehen war. Nun, seinen Leichnam würde niemand finden.

Konzentriert starrte er auf den Tisch und betrachtete Derejews Brief, der immer noch halb unter der Karte lag. Es war schwer, die kyrillischen Buchstaben zu lesen, zumal sie auf dem Kopf standen. Oberhalb des Namens war der Ort eingetragen, aus dem der Brief kam. Jesengorod. Die Stadt, aus der auch der Leibeigene stammte. Der Name des Absenders war kleiner geschrieben. »Karpakow«, entzifferte er schließlich.

Er kam nicht mehr dazu, den Vornamen zu entschlüsseln.

»Wir untersuchen die Sache«, meinte Derejew und legte Marfas Brief wieder hin. »Sage deinem Onkel und deiner Tante, sie sollen weiterhin Schweigen bewahren. Es ist gut, dass ihr euch an mich gewandt habt, statt diese Sache mit den Katzen unter das Volk zu streuen. Ich will keine Gerüchte.«

Johannes nickte. Nichts anmerken lassen. Nicht zu freundlich sein. »Danke«, brachte er hervor und verneigte sich leicht. Oberst Derejew sah ihn noch einmal prüfend an und entließ ihn dann mit einem knappen Nicken. Johannes konnte sich nicht daran erinnern, wie er aus dem Zimmer gekommen war.

Alles, was ihm noch im Gedächtnis haftete, waren seine Schritte, die auf den Dielen dröhnten. Jeder Soldat schien ihn anzustarren. Erst am Newator blieb er stehen und holte tief Luft. Obwohl sie klar und frisch war, hatte er das Gefühl zu ersticken. Derejew und die Verschwörer. Er überlegte, ob er seinen Onkel ins Vertrauen ziehen sollte, und entschied sich dagegen. Er hatte niemanden, dem er sich anvertrauen konnte, wurde ihm klar. Niemanden außer …

Jewgenij. Ein neuer Schreck durchfuhr ihn: Ob Derejew ihn beobachten ließ und von seinen Ausflügen ans Newaufer wusste? Er musste Jewgenij warnen!

»He, willst du mit, oder was?« Er zuckte zusammen und bemerkte, dass der Lastkahn gerade dabei war, abzulegen. Über einen Graben aus grünem Wasser grinste der Fuhrmann ihn verächtlich an. Ohne zu antworten nahm Johannes Anlauf und sprang auf das glitschige Deck.

* * *

In der Nacht träumte er von der wunderschönen Jelena und dem Häuschen auf Hühnerbeinen. Katzenschädel staken auf den Pfosten. Jelena lächelte. Sie hatte das Gesicht der Russalka und aus ihrer Schulter ragte ein Holzpflock. Wieder hatte er das Gefühl, in einer Falle zu sitzen und zu ersticken. Am liebsten hätte er sich sofort zu Jewgenij aufgemacht. Beruhige dich, befahl er sich und zwinkerte in das Morgenlicht. Iwan hatte sich bereits aufgesetzt und strich sich die Haare glatt. Er sah müde aus und so alt, dass Johannes sich unwillkürlich fragte, wie lange der Leibeigene noch leben würde. Verstohlen beobachtete er, wie der alte Mann nach seinem Bart tastete, als fürchtete er, der Zar könnte sich nachts in die Kammer geschlichen haben, um ihn seines kostbarsten Guts zu berauben. Dann stand er auf und schlurfte hinaus.