Seine Tante sah von ihrer Näharbeit hoch. »Aberglaube«, antwortete sie trocken. »Man sagt, Russalkas kommen aus dem Reich der Toten und gehen dahin zurück.«
»Dann sind sie also Gespenster.«
Marfa zog den Mundwinkel hoch, unwillig noch mehr zu diesem Thema zu sagen. »Die Bauern glauben, Russalkas seien ertrunkene Mädchen. Sie wohnen vor allem in Weihern und haben einen Fischschwanz. Im Sommer verlassen sie das Wasser und tanzen in den Wäldern. Warum willst du das wissen?«
Ihr scharfer Blick machte ihn nervös, im nächsten Moment wurde ihm bewusst, dass er sich ertappt fühlte. »Mitja hat die Tote so genannt«, antwortete er. »Und die Leute am Ufer haben sich bekreuzigt.«
»Der Gottesnarr spricht die Wahrheit, denn die Wahrheit liegt in Gott«, murmelte Iwan. Manchmal hatte Johannes das Gefühl, dass auch Iwan einen guten Gottesnarren abgeben würde.
»Hör zu, Johannes«, sagte Marfa. Sie hatte nicht die Angewohnheit, ihm russische Namen zu geben, sondern sprach seinen Namen sehr korrekt auf Deutsch aus. »Du weißt, was Zar Peter von solchem Aberglauben hält. Lass niemandem zu Ohren kommen, dass du solchen Unsinn glaubst.« Sie sah ihn noch einmal scharf an – ein Blick, der sich anfühlte, als wäre seine Stirn ein durchsichtiges Blatt Papier, hinter dem sich seine Gedanken abzeichneten wie die Umrisse von Schattenpuppen. »Und bitte mach keine Dummheiten«, setzte Marfa prompt hinzu. »Ich will dich nicht erwischen, wie du in die Werkstatt schleichst, hörst du? Wer weiß, was dem armen Ding passiert ist. Vielleicht war es Mord, vielleicht …«, ihre Stimme wurde leiser, »… wird irgendein Mann in den nächsten Tagen dafür bezahlen, dass er sie angefasst hat. Aber wir mischen uns nicht ein, hast du mich verstanden?« Johannes erwiderte nichts und senkte den Kopf. Marfa konnte Gedanken lesen, und der Gedanke, der ihm nun durch den Kopf ging, würde ihr überhaupt nicht gefallen.
»Hast du sie gesehen?«, fragte er nach einer Weile.
Marfa machte eine ungehaltene Geste. »Nein. Warum sollte ich mir eine Tote ansehen, nun? Was gibt es da zu sehen, was?« Und noch schärfer setzte sie hinzu: »Wenn es deine Christine wäre – würdest du wollen, dass jemand sie anstarrt?«
Johannes schwieg betreten und betrachtete den hölzernen Türgriff, den Iwan schnitzte.
»Hör endlich auf, herumzuzappeln!«, knurrte Onkel Michael, der bis jetzt schweigend dagesessen hatte und eine Bauskizze für ein Holzgerüst angefertigt hatte. Im Schein des Feuers bekam sein weißes Haar einen goldenen Glanz und erinnerte daran, wie Michael als junger Mann ausgesehen hatte. »Tu irgendwas! Wenn dir sonst nichts einfällt, kannst du die Schnitzmesser schärfen.«
Johannes stand auf und holte sich die Kiste, in der sorgfältig sortiert mehrere Messer lagen. Seufzend ließ er sich auf seinem Schemel nieder und klappte vorsichtig, um seine geschwollenen Finger zu schonen, den Deckel hoch. Unauffällig beobachtete er Marfa und Michael, die sich über die Steuern für das Schleifen von Äxten unterhielten, über das Werkzeug, das neu hinzugekauft werden musste, und über das neue Haus, das eines Tages nicht weit vom Newaufer entfernt stehen würde. Seine Ungeduld wurde immer brennender, aber er durfte keinen Verdacht erregen. Also beugte er sich tief über seine Arbeit und dachte darüber nach, wie er es anstellen würde, sich ungesehen hinter die Werkstatt zu schleichen.
Iwan beendete seine Arbeit an dem Türknauf und pustete ein paar Holzsplitter weg. Liebevoll fuhr er mit der Hand über das Holz. Johannes konnte nicht umhin, die Kunstfertigkeit des Leibeigenen zu bewundern. Seine Becher und Trinkschalen verkauften sich zu einem guten Preis. Sogar Zar Peter besaß einen hölzernen Messergriff aus Iwans geschickten schwieligen Händen. Was jeden anderen Handwerker mit Stolz erfüllt hätte, war für den Alten jedoch ein Grund, nachts schlecht zu schlafen. Er fürchtete nicht die Hölle oder den Teufel, nein, Iwan hatte Angst vor dem Zaren. Eine Furcht, die Johannes gut verstehen konnte. So beeindruckend der riesenhafte Herrscher war, so launisch und unberechenbar konnte er sein.
Und Iwan fürchtete zu Recht, Zar Peter könnte ihm aus einer Laune heraus doch noch eigenhändig den Bart abschneiden, so wie er es sogar bei den höchsten Würdenträgern in Moskau gemacht hatte. Zar Peter konnte in seiner Begeisterung und Güte maßlos sein – und ebenso maßlos in seinen Wünschen und seiner Willkür. Was ein Mörder zu erwarten hatte, konnte Johannes sich nur zu lebhaft vorstellen.
Er schauderte und linste aus dem Fenster zu dem Holzbau hinüber, in dem sich die Schleifbänke und Sägen befanden. Rechts am Gebäude, unter einem Vordach, war Holz aufgeschichtet. Vor der Werkstatt hielt einer von Derejews Leuten Wache und Johannes nahm an, dass irgendwo -wahrscheinlich unter dem Fenster auf der Nordseite des Gebäudes – noch ein zweiter Bursche stand. Sehr viel Aufwand, um eine Tote zu bewachen, die angeblich einfach nur ertrunken war. Irgendetwas stimmte nicht. Nicht dass Johannes ernsthaft glaubte, das Mädchen könnte wirklich eine Russalka sein. Johannes glaubte nicht an Dinge wie das Wilde Heer, das über den Nachthimmel galoppierte, an Nachzehrer oder rachsüchtige Seelen. Aber wenn Derejew solche Maßnahmen ergriff, war etwas Außergewöhnliches mit ihr geschehen. Vermutlich handelte es sich bei dem Mädchen um eine Adlige. Es roch nach Mord, zweifellos.
Später als sonst zogen sich Marfa und sein Onkel in ihre Kammer zurück, die Gehilfen und Iwan legten sich auf Pritschen und Decken vor den Ofen. Johannes lag auf seiner Bettstatt, die tagsüber als Sitzbank diente, und starrte mit offenen Augen in das seltsame Zwielicht, das auch die dicken Vorhänge an den Fenstern nicht ganz aussperren konnten. Wie immer in solchen Nächten versuchte er sich Christines Gesicht vorzustellen, ihr hellbraunes Haar und ihre sanften Züge. Heute allerdings gelang es ihm nicht. Heute hatte die Kaufmannstochter smaragdschwarzes Haar und eine Haut, die zu gleißen schien wie Schnee in der Sonne.
* * *
Trotz seiner Gedanken musste er kurz eingenickt sein, denn als er die Augen aufschlug, lag gespenstische Ruhe über dem Haus. Nicht einmal der Gehilfe röchelte mehr, sein Schlaf war so tief, dass Johannes überlegte, ob er vielleicht gestorben war. Im selben Moment drehte der Mann sich um und schnappte grunzend nach Luft. Sofort war Johannes hellwach.
Es stand auf und schlich zum Fenster. Die Silhouette des Wachmanns zeichnete sich gegen die dämmrige Helligkeit ab. Johannes überschlug im Kopf die verschiedenen Möglichkeiten, in die Werkstatt zu kommen. Die Tür war verschlossen. Auf Derejews Befehl hatte Onkel Michael dem Wachposten sogar den Schlüssel überlassen müssen. Aber es gab kaum ein Schloss, das für Johannes ein großes Hindernis darstellte.
Leise tastete er nach seinem Gürtel, an dem ein Werkzeug hing, das Marfa im Scherz »Sankt Petrus’ Schlüssel« genannt hatte. Damit würde er sogar das Himmelstor öffnen können, hatte sie gesagt. Oft verloren die Auftraggeber Schlüssel zu Truhen und Fächern – und dann war Johannes’ Werkzeug, das er in nächtelanger Arbeit erdacht und selbst hergestellt hatte, ein willkommener Gast im Haus. Wie einfach der Mechanismus war, wusste allerdings nur Johannes – es gab nicht viele Arten von Schlössern. »Du bist grundanständig, aber dein Schatten ist der eines Diebs«, war Marfas Meinung. Dennoch – heute würde ihm sein Werkzeug nicht viel helfen, es sei denn, es würde ihm gelingen, den Wachposten von der Tür wegzulocken.
Natürlich konnte er auch über das Dach klettern, aber das würde zu viel Lärm machen. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich zur Rückwand des Gebäudes zu schleichen. Nur Johannes und Iwan wussten von dem gelockerten Brett, das lediglich an zwei Nägeln hing. Johannes hatte den Leibeigenen dabei beobachtet, wie er das Brett aus der Wand herausgehebelt hatte. Wie von Geisterhand verschwand er durch den Spalt, wenn er einen von Zar Peters Leuten in die Werkstatt kommen sah. Johannes hatte ihn niemals verraten. Es war immer nützlich, so hatte er sich gedacht, einen zweiten Ausgang zu haben.