»Wo stand sein Haus?«, fragte Johannes.
Sein Onkel runzelte die Stirn noch mehr, bis sie aussah wie die Maserung von Tannenholz. »Warum um alles in der Welt fragst du mich solche Sachen?
Moskau – ich glaube im südlichen Viertel von Zargorod. Er bestand darauf, dass ein russischer Handwerker die Arbeit machen sollte.« Leise lachte er auf.
»Ich glaube, es hätte ihm nicht gefallen, dass stattdessen ein Ausländer seine Truhe gezimmert hat. Ich könnte mir vorstellen, er trägt heute noch seinen Bart und die langen Bojarengewänder. Ach, jetzt fällt es mir ein – er hieß Asalow oder so ähnlich.«
Führte die Spur der Russalkas bis nach Moskau?
Konzentriert dachte Johannes nach. Die Russalka hatte gesagt, der Besitzer des Unterpfands nähere sich der Stadt. Vielleicht war es dieser Adlige, der aus Moskau anreiste? Er nahm sich vor, einige der Fuhrleute zu befragen.
Onkel Michael schob die Schüssel mit der Kascha von sich weg und drehte sich zu Johannes um. »Warum willst du das wissen?«
»Ich habe den alten Brief gelesen, nichts weiter.«
Marfa sagte nichts.
* * *
Gerade als Johannes gedankenverloren eine Kiefernplatte abhobelte, die einmal Teil einer Täfelung werden sollte, drangen Stimmen vom Hof herein. Eine von ihnen gehörte Carsten Sund. Sie klang unnatürlich hoch und aufgeregt. »Michael Brehm!«
Alarmiert von dieser offiziellen Anrede sprang Onkel Michael von seiner Werkbank auf und klopfte sich die Sägespäne von den Ärmeln und vom Hemd. Er und Johannes wechselten einen raschen Blick. Im Augenwinkel sah Johannes Iwans schmales, blasses Gesicht, das beinahe so weiß war wie der Bart darunter. Johannes begriff die Lage sofort und bedeutete Iwan mit einem Wink, unter den Werktisch zu kriechen. Der Leibeigene verkroch sich so flink wie ein Frettchen und hätte beinahe das Modell der Sankt Paul vom Tisch gerissen, das seit ein paar Tagen in der Werkstatt stand. Ein Schatten fiel in den Raum. Der Besucher füllte den ganzen Türrahmen aus.
»Ich wünsche einen schönen Tag!«, rief er. Er sprach ein kantiges Deutsch, was Johannes, der inzwischen sogar schon auf Russisch träumte, so sehr irritierte, dass er die Worte zunächst kaum verstand.
Mit einer unwirschen Bewegung riss sich der Besucher den Dreispitz vom Kopf und duckte sich, um nicht an den Türrahmen zu stoßen. Er war so groß, dass selbst Johannes ihm vermutlich nur bis zur Schulter ging. Er trug keine Perücke, sein rotbraunes Haar war im Nacken zusammengebunden und sein Schnurrbart akkurat gestutzt. Zar Peter.
Johannes schluckte und machte wie die anderen eine tiefe Verbeugung. Die Aufregung, dem Zaren gegenüberzustehen, ließ seine Knie weich werden.
»Welch eine Ehre, Eure Majestät, der Zar«, sagte Michael ehrfürchtig. Im Laufe der Jahre war sein Deutsch holprig geworden. Jedes Wort lag ihm im Mund wie ein sperriges Stück trockenes Brot, aber der Zar lächelte zufrieden und sah sich um. »Das ist also die Werkstatt des Mannes, den Trezzini nicht genug loben kann«, rief er und rieb sich die Hände.
Erleichtert bemerkte Johannes, dass der Zar sich nicht weiter um ihn kümmerte, und zog sich vorsichtig zu seiner Hobelbank zurück. Mit einem Seitenblick sah er, dass Iwan nur schlecht verborgen unter dem Tisch kauerte. Unauffällig platzierte er sich so, dass er die Sicht zum Tisch verstellte. Dann musterte er verstohlen den Zaren. Er trug einen grünen Mantel von ukrainischem Schnitt und schwarze Stiefel, die ihm bis über die Knie reichten. Das Hemd mit dem Rüschenkragen schien im Halbdämmer der Werkstatt zu gleißen. Sein Gesicht kam kaum zur Ruhe, ab und zu zwinkerte er, als hätte er einen Krampf im Lid.
Sein Blick war ruhelos und sprang wie ein Jagdhund auf der Suche nach Dingen, die er verschlingen konnte, in jeden Winkel. Und Zar Peter verschlang wirklich alles, was er sah: Wissen, die Schönheit von Frauen, jeden Fehler und jede Unregelmäßigkeit, die er entdeckte. Heute jedoch war er freundlich und ü-
berbordend. Ohne auf die ehrerbietige Antwort von Onkel Michael zu achten, schoss der große Mann zum nächsten Tisch und wischte alles, was darauf lag, zur Seite. Zeichnungen, Holzkisten und ein Hammer rutschten an den Rand des Tisches. Klappernd fiel eine Kiste mit Nägeln zu Boden. Alle Gehilfen sprangen herbei und sammelten sie eilfertig wieder auf.
»Sieh dir das an, Michail!«, rief er. »So heißt du doch, oder? Michael?«
Johannes’ Onkel verbeugte sich wieder. »Ja, Eure Majestät. Michael Brehm, Tischler und Zimmermann. Aus der Nähe von Magdeburg.«
»Ein Preuße also.« Der Zar musterte ihn wohlgefällig und lächelte. Dann wandte er sich wieder seinem Papier zu. »Sieh dir das hier an. Kannst du das hier für eine meiner neuen Korvetten machen?«
Johannes streckte sich unauffällig und erhaschte einen Blick auf die Zeichnung einer Bordkanone, die von einer ungewöhnlich hohen Stützkonstruktion getragen wurde. Gleichzeitig fiel ihm auf, wie kräftig die Finger des Zaren waren. Mit einem Schaudern dachte er an die Geschichte, dass der Zar mit bloßen Händen einen Silberteller zusammenrollen konnte.
Onkel Michael war aschfahl geworden. Johannes konnte sehen, dass es ihm nicht behagte, Gerätschaften für den Krieg herzustellen. Aber es war eine großartige Chance, direkt für den Zaren zu arbeiten.
Gleichzeitig fielen ihm Derejews Worte wieder ein:
»Wer nahe am Feuer, der nahe am Brand.«
»Ja, Eure Majestät«, sagte Michael knapp. Trotz der Ruhe, die er ausstrahlte, bemerkte Johannes ein Pochen, das sein straff gespanntes Hemd an der Brust bewegte. Michaels Herz schlug bis zum Hals.
Zar Peter lachte. Seine Hand sauste auf Onkel Michaels schmerzende Schulter herab. Johannes konnte sehen, wie sein Onkel leicht in die Knie ging.
»Nichts anderes habe ich erwartet!«, rief der Zar.
»Ich brauche sechs davon, du bekommst die Maße.
Komm morgen zur Werft und schau dir die Kanonen an. Und nun lass sehen, was du sonst noch hier hast!« In seiner Begeisterung und Unternehmungslust, die er nun versprühte wie ein Feuer die Funken, wirkte er jünger als die vierunddreißig Jahre, die er zählte.
Hinter Johannes ertönte ein Rascheln. Während Onkel Michael dem Zaren seine Baupläne zeigte und die Vorzüge der Werkbank erklärte, die er selbst angefertigt hatte, ging Johannes zu seiner Hobelbank zurück. So als wollte er die Bank freiräumen, nahm er die Kiefernholzplatte und stellte sie vor Iwans Tisch ab. Mit roten Flecken auf den Wangen und einem reizenden Lächeln tauchte Marfa in der Werkstatt auf und kredenzte den teuren Tokajer, den sie für Gelegenheiten wie diese ebenso gut hütete wie die Geldkassette.
Der Zar strahlte sie an und griff nach der zierlichen Trinkschale aus Bergkristall. Sie thronte auf einem Silberfuß in Form einer Blüte und verschwand beinahe völlig in seiner großen Hand. »So liebe ich es. Gönnt Petruschka ein Glas Wein! Und gib diesem unsäglich dicken Sund auch noch einen!«, befahl er.
Carsten Sund sprang herbei und bedankte sich überschwänglich, dann prosteten sie sich zu. Sowohl Sund als auch Michael achteten peinlich genau darauf, erst nach dem Zaren die Schale an die Lippen zu setzen.
Über den Kristallrand hinweg erblickte der Zar Johannes und dann, hinter ihm auf dem Tisch, die Sankt Paul. Johannes wurde heiß. Die leere Schale knallte beängstigend hart auf Holz, dann schoss der Zar schon auf den Tisch zu, unter dem Iwan kauerte.
»Meine Sankt Paul!«, rief Zar Peter aus. Unwillkürlich verfiel er wieder ins Russische. »Wer hat sie gemacht? Du, Michael?«
Langsam schüttelte Onkel Michael den Kopf.
»Mein Neffe, Eure Majestät«, sagte er ehrerbietig.
»Johannes – er steht neben Euch.«
Johannes schluckte seine Panik hinunter und hoffte, seine selten geübte Verbeugung fiel nicht zu ungeschickt aus. Ihm war, als würde der Zar ihn mit dem Blick durchbohren. Er kennt mich nun, dachte sich Johannes. Ich könnte ihn vor Derejew warnen, aber ich habe keine Beweise. Und selbst wenn er mir glaubt, ist es der Tod der Russalkas. Mit Schaudern erinnerte er sich an die toten Wesen, die in Rosentrosts Kabinett in Spiritus dümpelten.