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»Stephan Gaden«, flüsterte Johannes.

Michael nickte kaum merklich. »Seit diesem Tag bin ich nicht der Einzige, der nicht mehr schlafen kann. Auch der Zar findet keine Ruhe mehr und träumt von dem Blut. Beide sind wir krank. Es ist die Krankheit des Misstrauens. Verstehst du jetzt, warum ich nicht möchte, dass du ihn verärgerst? Für dich ist er einfach ein Zar. Ich aber habe gesehen, dass er aus Rache auch ein Folterknecht und Bluttrinker sein kann.«

»Dann … ließ er die Strelizen bei ihrem zweiten Aufstand vor einigen Jahren aus Rache hinrichten?«, fragte Johannes.

Onkel Michael wischte Johannes’ Worte aus der Luft wie eine lästige Fliege. »Was für ein Aufstand?«, sagte er verächtlich. »Es gab keine richtigen Beweise, die Geständnisse waren oft unter der Folter erzwungen worden. In seiner Anklage hieß es, die Aufrührer hätten geplant, die Deutsche Vorstadt niederzubrennen, uns zu töten und Sofia, die Halbschwester des Zaren, als Regentin einzusetzen. Ich glaube, es war pure Rache. Du warst nicht dabei. Du hast nicht gesehen, wie er wütete.« Onkel Michael hatte sich in Rage geredet. Johannes hatte Angst, als er das gequälte Gesicht sah. Ihm war, als würden ihn alle Albträume und alle Bilder, die Michael nachts vor sich sah, anspringen wie Kobolde. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, aber er war zu starr vor Abscheu. »Die Hinrichtungen fanden überall statt – auf dem Schönen Platz, vor den Toren der Stadt und bei den Regimentern. Auf dem Hügel neben den Kasernen von Bebraschensko, wo üblicherweise die auf Schandpfähle gespießten Köpfe der Gerichteten verdorren, befahl der Zar einen Richtplatz. In langen Kolonnen wurden die Strelizen an all diese Orte getrieben – mit brennenden Kerzen in den Händen, gefolgt von ihren weinenden Frauen und Kindern. Peter hat sogar seinen Hofstaat gezwungen bei den Hinrichtungen zu helfen. Ungeschickte Beamte schwangen das Henkersbeil und ich will dir nicht erzählen, wie schlecht manche von ihnen dieses Handwerk beherrschten, weil ihnen die Hände zitterten und sie schwach und elend vor Angst waren. Es war ein Schlachtfest der Rache. Mehr als tausend Strelizen hat er hinrichten lassen. Nur die Minderjährigen ließ er laufen, junge Kerle, die so alt waren wie du – aber er ließ es sich nicht nehmen, ihnen vorher die Nasen und Ohren abzuschneiden.«

»Hör auf!«, rief Johannes. Die Übelkeit war so schlimm, dass er dachte, er müsse sofort hinausstürzen.

»Es hört nie auf«, antwortete Onkel Michael.

»Aber warum sind wir dann nicht in Moskau geblieben?«, ereiferte sich Johannes. »Du wärest freier und der Zar wäre weiter fort.«

»Die Zukunft Russlands ist dort, wo der Zar ist«, sagte Michael bitter. »Der Zar hasst Moskau. Er will nicht in den Kremlpalästen leben, in diesen Labyrinthen dunkler Gänge und Gemächer, er erträgt nicht die monotonen Gesänge der Priester und hasst alle, die an den altrussischen Sitten festhalten. Nein, Moskau wird untergehen. In wenigen Jahren wird sich niemand mehr auch nur daran erinnern. Diese Stadt aber wird die neue Hauptstadt sein. Und es wird eine bessere Stadt sein. Es wird Schönheit geben. Und wenn ich noch an Schönheit glauben kann, will es was heißen. Ich habe lange nicht mehr daran geglaubt.« Seine Stimme wurde sanft und seine Falten glätteten sich. »Erst wieder in dem Augenblick, als ich Marfa traf.« Müde erhob er sich. »Nun, du wirst Arbeit haben als Schiffszimmermann. Das ist es doch, was du wolltest. Ich gratuliere dir zu deiner neuen Arbeit in der Werft.« Er wankte aus der Werkstatt. »Das Leben geht weiter«, hörte Johannes ihn murmeln. »Immer weiter.«

* * *

Lange saß Johannes wie betäubt da und starrte auf die Werkstatttür, die sich, so schien ihm, für immer zwischen ihm und seinem Onkel geschlossen hatte.

Sund hatte Recht gehabt. Johannes war nicht mehr der gehorsame Lehrling, der seinen Weg in den Fußstapfen anderer suchte, er war neben den gut begangenen Pfad getreten. Und der Weg, der sich nun vor ihm auftat, war beängstigend und voller Geheimnisse. Schwerfällig erhob er sich und ging zum Haus hinüber. Schweigend sammelte er seine Habseligkeiten zusammen, warf sich die Decke über die Schulter und verließ das Wohnhaus. Seltsamerweise war er erleichtert, als er seinen Platz in Onkel Michaels Haus geräumt und sich in der Werkstatt einquartiert hatte. Sein Bett richtete er sich unter einer Werkbank ein, möglichst weit entfernt von den Pritschen der Gehilfen. Es würde sie stören, wenn der Neffe ihres Herrn in der Werkstatt war und ihnen den letzten Raum zur ungezwungenen Unterhaltung nahm, aber Johannes konnte es nicht ändern.

Seine Knochen schmerzten, als er sich auf der Decke ausstreckte. Er schloss die Augen und dachte zum ersten Mal seit dem Besuch des Zaren in aller Ruhe nach. Eigentlich erschien es ihm so, als hätte er seit Wochen keinen klaren Gedanken gefasst, umso deutlicher formten sich nun Bilder, Eindrücke und wirbelnde Fragen vor seinem inneren Auge. Als Erstes erschien das Gesicht der Russalka vor ihm, dann Jewgenijs Lächeln. Jewgenij, sein Freund, der arme Fischer. Was ihn am meisten verwunderte, war das klamme Gefühl, das er verspürte, wenn er an die Arbeit in der Werft dachte. Noch vor wenigen Wochen hätte er beinahe seine Seele verkauft, um dort arbeiten zu können, und nun, da ihm dieser Weg freistand, zögerte er diesen Schritt zu tun. Es stimmte – es konnte gefährlich werden, in der Nähe des Zaren zu sein. Onkel Michaels Geschichte hatte ihn mehr verstört, als er zugeben wollte. Andererseits – es war der einzige Weg, alles zu bekommen, wovon er je geträumt hatte. Beinahe konnte er schon das Holz eines glatten Achterdecks unter seinen Füßen spüren, er hörte das Knarren von mächtigen Rahsegeln und seine Seele flog über einen tintenblauen Ozean einem neuen Leben entgegen. Türen würden sich öffnen – nicht zuletzt die von Christines Elternhaus. Johannes runzelte die Stirn. Allerdings hatte er die Sehnsucht nach Christine irgendwo zwischen Newa und Werkstatt verloren. Sie fehlte ihm nicht halb so sehr wie sein Freund Jewgenij. Dieser Gedanke beunruhigte ihn. Neben Jewgenijs Bild tauchte die Russalka auf – lachend, listig und verführerisch, ein Wesen, das es nicht gab, ein Katzenfisch und Wellenmensch.

Ein Wesen, das bald tot auf dem Grund der Newa liegen oder vielleicht mit Sägespänen ausgestopft die Hauptattraktion in Zar Peters Monstrositätenkabinett sein würde. Der Zar, der Johannes eine Zukunft als Schiffszimmermann ermöglicht hatte, war Jewgenijs Feind. Johannes stand zwischen Freund und Feind.

Und wenn er ehrlich war, dann war es Jewgenij, zu dem er lief, Jewgenijs Wort war wichtiger als Christines Lächeln, das Leben der Russalka wichtiger als das Achterdeck und das tintenblaue Meer. Ich bin dumm, dachte Johannes mit einem grimmigen Stolz.

Aber ich werde keinen Fuß in die Werft setzen, solange die Russalka in Gefahr und Derejews Plan nicht vereitelt ist. Er würde beide retten – die Russalka und den Zaren.

Mit Leichtigkeit schob er sein neues Leben beiseite und besann sich auf die Vergangenheit. Schritt für Schritt ging er seine Erkenntnisse durch. Derejew hetzte gegen die Deutschen und spielte ein doppeltes Spiel. Teil dieses Spiels war es, die Existenz der Russalkas zu verheimlichen. Er schützte die Russalkas vor dem Zugriff des Zaren. Warum? Die Russalkas wiederum warteten auf ihren Herrn, der ihnen die Perle bringen würde. Die Perle befand sich bei einem Adligen in Moskau, einem Bojaren und Altgläubigen, der vielleicht schon auf dem Weg nach Sankt Petersburg war. Es gab keine Verbindungen und dennoch ertastete Johannes in der Dunkelheit der Gedankenkammer, in der er noch umherirrte, einen seidenen Faden, der ihn zu etwas Größerem führen würde, zu der Schatzkiste voller Geheimnisse. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn er sich von seinem Onkel trennte. Dadurch würden Michael und Marfa nicht in Gefahr geraten, falls Johannes scheitern sollte. Er würde die Fuhrleute befragen und versuchen herauszufinden, wer der Bojar war und ob sich jemand mit einer solchen Truhe auf dem Weg nach Sankt Petersburg befand. Und er würde herausfinden, von wem Derejew Briefe bekam.