Zufrieden und erleichtert schloss Johannes die Augen. Das Tuscheln der beiden Gehilfen, die glaub-ten, er sei schon längst eingeschlafen, klang wie das Geräusch von Wellen und schläferte ihn ein. Bevor er sichs versah, stand er auf einem Schiff und sah zu, wie der Bug die Wellen schnitt. Leiber blitzten in den Wellenkronen auf, die Russalka lachte ihm zu und winkte mit ihrem weißen Arm. Johannes lächelte. Der Himmel wurde dunkel und die See war plötzlich sturmgepeitscht. Johannes verlor das Gleichgewicht und griff nach der Holzreling. Glühend heiß war sie, Schmerz durchzuckte seine Hand und schoss den Arm hinauf. Der Gestank von verbranntem Fleisch ließ ihn zurückzucken, doch er sah, dass er gefesselt war. Ein Eisenring war um sein Handgelenk geschmiedet. Die Reling hatte sich in ein glühendes Foltereisen verwandelt.
In Zar Peters Augen tanzte die Flamme des Folterfeuers. »Wo ist die Russalka?«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Du weißt es!«
»Nein!«, schrie Johannes. Verzweiflung erfüllte ihn, als er erkannte, dass er seine Lüge nicht lange würde aufrechterhalten können. Im Hintergrund gähnte eine Folterkammer, rußschwarz und schrecklich wie der Schlund der Hölle. An Ketten hing ein Gefangener mit struppigem schwarzem Haar – Jewgenij!
»Nein«, flüsterte Johannes, während Zar Peter ihn düster betrachtete. Tränen brannten auf Johannes’ versengten Wangen. Im selben Augenblick schien seine Hand durchsichtig geworden zu sein, er konnte sie heben und sie glitt wie ein Schemen durch die eiserne Schelle um sein Handgelenk. Eine andere Hand schien dort zu bleiben, während er seine an die Wange hob und sich die Tränen abwischte. Es war angenehm kühl auf seiner Haut. Auch der Geruch war verschwunden, stattdessen duftete es tröstlich nach Holz und Firnis und ein wenig auch nach Eisen und Öl. Nach endlosen Augenblicken hatte er sich endlich in die Realität zurückgetastet. Es war nicht der Albtraum, der ihn geweckt hatte, es war ein Geräusch. Jemand hatte die Werkstatttür geöffnet und kam auf leisen Sohlen auf ihn zu. Im ersten Moment fühlte er endlose Erleichterung und bange Freude.
Immer noch halb im Traum gefangen richtete er sich auf. »Jewgenij?«, flüsterte er.
»Heißt er so?«, fragte eine vertraute Stimme in der Dunkelheit.
Johannes war verwirrt. »Wer?«, fragte er.
Die Stimme lachte leise. »Dein Freund, der Fischer.« Marfas Schritte hielten inne.
Johannes atmete tief aus. Die Spannung ließ nach, der Traum verwehte. »Bist du gekommen, weil ich mich mit Michael gestritten habe?«
Eine Pause folgte. »Nein«, sagte sie schließlich.
»Ich habe etwas für dich.«
Er hörte sie nach etwas suchen. Ein Span leuchtete auf, dann entzündete sie den Docht eines Kerzenstumpens und stellte ihn auf den Boden. Johannes dachte unwillkürlich an Onkel Michael, der die Kerze sofort zertreten und Marfa eine Predigt über brennende Werkstätten halten würde. Die Gehilfen schnarchten. Marfa sah sich um, dann setzte sie sich ohne Umschweife neben Johannes’ Lager auf den Boden. Jetzt erst bemerkte er das große Buch, das sie bei sich trug. Behutsam legte sie es neben die Kerze.
Stumpf und abgeschabt war das Einbandleder. An einer Seite hatten Mäuse genagt. Marfa legte den Finger an die Lippen und schlug das Buch auf. Seite um Seite blätterte sie behutsam um, bis sie endlich innehielt. Johannes spähte über ihren Arm hinweg und erkannte mehrere akkurat gezogene Spalten, die von einer Vielzahl beschrifteter Zeilen unterteilt waren. In winziger Schrift waren Zahlen und Namen notiert.
»Michael hebt alle alten Auftragsbücher auf«, sagte sie. »Die Truhe hat er vor fünfzehn Jahren angefertigt. Es war sehr mühsam, die Mooreiche zu besorgen, aus der sie gemacht ist. Und sehr teuer.« Sie blätterte einige Seiten um und fuhr mit dem Finger eine lange Reihe von Bezeichnungen hinunter. Bei einem Wort hielt sie inne. »Truhe mit dem fliegenden Fisch, Mooreiche.« Johannes bemerkte erst jetzt, wie er vor Nervosität seine Hände ineinander verkrampft hatte. Marfas Zeigefinger glitt nach rechts zum Namen des Auftraggebers. »Artamon Karpakow«, flüsterte sie und klappte das Buch wieder zu.
»Nicht Asalow, wie Michael meinte.«
»Karpakow«, wiederholte Johannes leise. Er hatte das überwältigende Gefühl, dass sich ein Knoten in seiner Brust löste. Am liebsten hätte er den Namen herausgeschrien, aber er grinste nur breit und glücklich und sah den Widerschein seines Triumphes in Marfas Gesicht aufleuchten. Jetzt ergab es einen Sinn. Karpakow – der Name, der auf dem Brief stand, der auf Oberst Derejews Schreibtisch darauf gewartet hatte, gelesen zu werden. Karpakow und Derejew – zwei Antworten in dem Rätsel um die Russalka, das es zu lösen galt. Johannes beugte sich vor und umarmte Marfa. Noch nie war er ihr so nahe gewesen. Anfangs versteifte sie sich, aber bald gab sie nach und ließ sich in seine Umarmung fallen.
»Danke!«, flüsterte Johannes. »Marfa, ich danke dir so sehr! Du bist mein … geheimer Schlüssel zu Petrus’ Himmelstor.«
Verwirrt machte sie sich los und strich sich das Haar zurecht. »Sagst du mir nun, was du vorhast?«, flüsterte sie.
Johannes biss sich auf die Unterlippe. Die plötzliche Zärtlichkeit, die er für seine Tante empfand, wich der Sorge. »Ich kann nicht, Marfa. Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen und auch Michael nicht.
Aber wenn alles vorbei ist, werde ich es dir erklären und du wirst mich verstehen.«
Sie lächelte. »Ich werde dich nie verstehen, Johannes. Aber gerade das gefällt mir an dir. Ich glaube, du bist Michael sehr ähnlich – so muss er als junger Mann gewesen sein.«
»Hilfst du mir deshalb?«
Mit einem Mal wurde sie ernst. »Ich helfe dir, weil du ein mutiger Mann bist«, erwiderte sie. »Es gehört viel Mut dazu, dem Zaren ein Geschenk zu verweigern. Dein Onkel würde das nicht verstehen, aber ich denke, die Mutigen werden die Welt in den Händen halten.« Sie lächelte wieder. »Ich hatte Angst um dich, doch jetzt habe ich nur Angst davor, dass du dein Ziel nicht erreichen könntest. Ich glaube, dass Leben davon abhängen, habe ich Recht?«
Er nickte.
»Hat es etwas mit deinem Freund zu tun?«
»Ja, mit … Jewgenij.«
Sie stand auf und löschte die kleine Flamme. Einer der Gehilfen schnaubte im Schlaf und drehte sich dann geräuschvoll auf die andere Seite. Marfas Stimme schwebte in der Dunkelheit. »Wenn es so weit ist, dass du ihn nicht mehr vor uns verstecken musst, werde ich mich freuen ihm die Hand zu geben.«
* * *
Johannes kam erst zur Ruhe, als er an der verkrüppelten Weide stand. An diesem Sommermorgen war der Himmel grau. Ein starker Wind trieb die Rufe der Holzfäller aus dem Wald zu ihm herüber. Weit hinten am Waldrand mühte sich eine Kolonne von Arbeitern ab, die entasteten Stämme allein mit Menschenkraft in Richtung Stadt zu schleppen. Die Wasseroberfläche war rau und undurchsichtig. Nachdenklich ließ Johannes seinen Blick über das gegenüberliegende Ufer schweifen. Angestrengt überlegte er, woher er ein Ruderboot bekommen könnte. Er nahm ein paar Kiesel und ließ sie über das Wasser tanzen. Als alle Kiesel aufgebraucht waren, zog Johannes seine Schuhe aus und watete am Ufer entlang. Der Newasand rieb zwischen seinen Zehen, aber er fühlte sich gut und beinahe lebendig an.
»He!«, raunte ihm die Stimme des Flusses zu. Er fuhr herum und blickte nach rechts in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Die Russalka lächelte.
Besorgt sah er sich um, aber die Arbeiter, die damit beschäftigt waren, ein Pferdefuhrwerk zu beladen, bemerkten weder ihn noch den seltsamen Nebelstreif über der Newa. »Du hast meine Steine gehört«, stellte er fest.
»Steine?«, sagte sie. »Nein, dein Herz schlägt so laut und ungeduldig, dass selbst ein tauber Wal dabei nicht ruhen könnte.« Nun klang ihre Stimme ärgerlich und ihr Mund war schmal und nicht mehr so hübsch wie sonst.