»Ich wollte dich nicht stören«, erklärte er. »Aber ich muss wissen, wo Jewgenij lebt. Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn!«
In ihren Augen glomm Neugier auf. »Ich weiß, wo du ihn findest.«
»Gut! Hör zu, wenn ich ein Boot besorge, würdest du mich über die Newa ziehen? Ich habe gesehen, wir ihr Jewgenij über den Fluss bringt.«
Die Nixe betrachtete ihn prüfend. »Nein«, entschied sie dann.
»Begreifst du denn nicht?«, fuhr er sie an. »Es geht um dein Leben – aber auch um unseres. Ich weiß, wie wir euch retten können! Aber dafür darf ich keine Zeit verlieren!«
Ihre Augen wurden wieder zu Raubfischaugen. Sie schien sich die Entscheidung, ob sich ihn auslachen oder doch ertränken sollte, nicht leicht zu machen.
»Eben«, sagte sie spitz. »Du hast keine Zeit, ein Boot zu holen. Ich verstehe ohnehin nicht, was ihr damit wollt!« Ohne auf die Arbeiter zu achten erhob sie sich halb aus dem Wasser und streckte die Arme nach Johannes aus. »Komm ins Wasser«, raunte sie.
Johannes sah ihre Fingernägel an. Sie mussten scharf wie Ritzmesser sein. »Schwimmen?«, brachte er heraus. »Mit dir?«
Die Russalka ließ sich ins Wasser gleiten und schwieg. Er begriff, dass sie ihn hier lassen würde.
Es war keine Frage an ihn, es war ein Angebot. Und es galt für diese paar Herzschläge und nicht länger.
Ihr Gesicht tauchte unter die Wasseroberfläche und Johannes erkannte plötzlich ein Wasserwesen, nicht Fisch, nicht Mensch, sondern das Unheimlichste von beidem. Kiemen schnappten neben knöchrigen Kiefern, Augen blickten seelenlos, schuppige Haut spannte sich über erschreckend menschliche Züge.
Für die Dauer einer flüchtigen Spiegelung hatte er das Gefühl, das wahre Bild der Russalka zu sehen, abstoßend und monströs und doch auf bizarre Weise schön. Widerwillen würgte ihn beim Gedanken, in die Arme dieses Geschöpfes zu tauchen, aber dann sah er Jewgenijs Gesicht vor sich – Jewgenij aus seinem Traum, in der Folterkammer.
Noch nie, so schien ihm, hatte ihn etwas so viel Überwindung gekostet wie die fünf Schritte in das tiefere Wasser. Im nächsten Augenblick war er in einer festen Umarmung gefangen, Arme wanden sich um ihn, Haar strich über seine Wangen und da waren auch die Brüste, die sich beunruhigend an ihn schmiegten. Gerade noch konnte er Luft schnappen.
Wie ein seidiger Schal glitt das Wasser an ihm ab.
Der Strom zerrte an seinen Wangen, sie mussten sich mit ungeheurer Geschwindigkeit bewegen. Das Rauschen seines eigenen Blutes dröhnte ihm in den Ohren. Unter Wasser riss er die Augen auf. Gesichter blitzten neben ihnen auf, ähnlich dem der Russalka, aber anders, so wie auch Menschen verschieden waren. Eine riesenhafte Hand ergriff seinen Knöchel, riss ihn aus den Armen der Russalka und zog ihn in die Tiefe. Panik übermannte ihn, der Druck in seinen Ohren wurde größer, Wasser drang in seinen Mund, als er reflexartig schreien wollte, aber da war schon eine andere Hand, zupfte an ihm, griff grob in sein Genick und wirbelte ihn herum, bis er nicht mehr wusste, wo oben und unten war, und panisch zu paddeln begann. Überall waren Aalleiber, die sich um ihn schlangen. Ein wirbelnder Kampf entbrannte.
Neben ihm ertönte ein katzengleicher Schrei unter Wasser. Die Nixen balgten sich um ihn wie Fische um ein Stück Brot! Gleich darauf presste sich wieder der wohl bekannte Schlangenleib an ihn, die Arme der Russalka zogen ihn zur Wasseroberfläche. Endlich drang wieder Luft in seine Lunge. Sie waren nicht weit vom Nordufer entfernt, winzig klein starrte ihnen von der anderen Seite her die bucklige Weide nach.
»Still!«, sagte die Russalka, als er hustete. »Hol Luft!«
Und weiter ging es, stromaufwärts. Das Wasser war seichter und die Gesichter um ihn herum wurden weniger. Nach einer Ewigkeit, als er schon zu ersticken glaubte, stießen seine Knie auf sandigen Grund.
Die Russalka ließ ihn los. Wie ein Schiffbrüchiger kroch er an Land und japste nach Luft. Er war erschrocken, wie weit entfernt er von der Stadt war, weit hinter der großen Newabiegung. Legte Jewgenij so große Entfernungen zurück?
»Gehe dort entlang, bis du zu den ersten Bäumen kommst«, raunte die Nixe. »Von dort aus folge dem Weg des Sonnenaufgangs.«
»Danke«, wollte Johannes sagen, aber ein Platschen schnitt ihm das Wort ab. Wasser floss aus seiner Kleidung und ließ ihn trotz der Sommerwärme frieren. Er fühlte sich elend und zerschlagen, immer noch brannte das Entsetzen darüber, dass ein anderes Russalka-Wesen versucht hatte, ihn der Nixe wie einen Beutefisch abzujagen, in jeder Faser seines Körpers. Mit wackligen Knien machte er sich auf den Weg. Nun, falls Derejews Leute seine Schritte beobachtet hatten, dann waren sie jetzt zumindest davon überzeugt, dass er ertrunken sei.
Der Weg war weit und öde. Nur ein paar schäbige Bäume standen in der Gegend herum. Johannes hatte erwartet eine Ansiedlung zu finden, ein kleines Dorf vielleicht oder ein befestigtes Haus, stattdessen sah er von weitem nur eine Art schlammigen Hügel. Je näher er ihm kam, desto mehr Gegenstände erkannte er, die an eine menschliche Behausung erinnerten.
Faulige Bretter lagen auf dem Boden; an einem Hackblock, der unter einem Baum stand, klebten Fischschuppen und an einem anderen Baum war ein zerrissenes Netz zum Trocknen aufgehängt. Ein unbehagliches Gefühl beschlich Johannes. Unwillkürlich begann er zu schleichen. Die Hütte war so erbärmlich, dass Onkel Michael sie nicht einmal dazu verwendet hätte, Holz zu lagern. Dafür wäre sie auch zu feucht und modrig gewesen. Wie ein russisches Bauernhaus war sie aus runden Holzstämmen erbaut – ohne einen Nagel waren sie aufeinander geschichtet und ineinander verkantet. Solche Blockhäuser waren für gewöhnlich stabil, hier aber hatten die Winterstürme mit ihren Schneemassen und der Sommerregen ganze Arbeit geleistet. Nur notdürftig war das Häuschen repariert worden. Torf dichtete die Ritzen ab, manche der Stämme waren nur verschnürt, andere lehnten sich an Erdwälle, die aufgeschüttet waren, um die armselige Konstruktion zusammenzuhalten.
Der Geruch von Fisch und einem rußigen Feuer lag in der Luft.
Verzagt schlich Johannes zu der Luke, die wohl die Tür war, und spähte hinein. Nein, das konnte nicht Jewgenijs Zuhause sein. Hier drinnen gab es nichts außer – soweit er erkennen konnte – einer Pritsche, auf der ein Lumpenbündel lag. Es bewegte sich. Johannes blieb wie angewurzelt stehen. Es war eine alte Frau. Sie war krank, ihre Haut war fleckig und ihr Gesicht glich einem Totenschädel. Einst musste sie hübsch gewesen sein, aber seit damals hatten Zeit und Krankheit auf ihren Zügen gewütet und auch der Tod hatte bereits die Hand auf ihre Schulter gelegt. Aus gelblichen Augen starrte sie Johannes an. Plötzlich schämte er sich ihre Armut zu sehen, er fühlte sich, als hätte er etwas Klebriges berührt, das nun ewig an ihm haften würde.
»Entschuldigung«, sagte er und wollte sich abwenden.
»Teufel!«, kreischte die Alte auf. Mit einer Gewandtheit, die er nie und nimmer in dem gebrechlichen Körper vermutet hätte, stemmte sie sich hoch und setzte sich auf ihrem Lager auf. Ihr knochiger Zeigefinger stieß in seine Richtung. »Teufel!«, wiederholte sie. »Ketzer! Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und deine Brüder, deine Brut, deinen Vater!« Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze des Hasses.
Johannes stolperte und stieß sich die Schulter an der Tür. Die Wucht ihrer Worte traf ihn wie ein Tritt.
Baba Jaga Knochenbein!, fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf. Wenn sie könnte, würde sie meinen Schädel auf ihren Gartenzaun spießen. »Ich … bin kein Teufel«, erwiderte er.
Baba Jaga spuckte verächtlich aus. »Ein Hund bist du -Tiere seid ihr! Wo kommt ihr her, was habt ihr hier bei anständigen Gläubigen zu suchen? Ist das euer Land? Nein! Ihr seid Bestien. Du bist ein Tier, kein Mensch!«
»Katka?«, rief eine besorgte Stimme. Johannes drehte sich um und rannte.