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»Verrecken sollst du!«, schrie ihm die Alte hinterher. »Auf dein Grab werden die Heiligen spucken!«

Vor der Tür prallte er gegen Jewgenij, stieß ihn beiseite und lief mit großen Schritten in Richtung Fluss. Gegen seinen Willen stiegen ihm die Tränen in die Augen. Er wollte nur noch fort. Er fror in seinen nassen Kleidern und stapfte immer weiter, bis er die Hütte weit hinter sich gelassen hatte. Dann setzte er sich einfach auf den Boden und vergrub den Kopf in den Armen. Es war zu viel. Was hatte er verloren in einem Land, in dem er Teufel und Tier genannt und verflucht wurde?

Jewgenij kam so leise heran, dass Johannes zusammenschrak, als er die Hand auf seiner Schulter fühlte. »Es tut mir Leid«, sagte Jewgenij. Seine Stimme war weich und traurig. »Katka … Du musst sie verstehen. Sie ist alt und sie hat alles verloren.«

Johannes schüttelte die Hand ab und sprang auf.

»Ich muss sie verstehen?« Er wollte nicht, dass Jewgenij ihn weinen sah, aber es war zu spät. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen.

Jewgenij räusperte sich. Als er weitersprach, klang seine Stimme belegt. »Wenn dein Onkel sehen würde, wie ich hier lebe – was würde er über mich sagen? Und wenn er es nicht sagen würde, was würde er denken? Würde er denken, es sei das Richtige für dich, mit mir befreundet zu sein?«

Johannes holte Luft, endlich hatte er das Gefühl, er bekam wieder welche. »Wahrscheinlich nicht.« Und er dachte: Hätte ich das Haus vorher gesehen, ich wäre selbst davor zurückgewichen.

»Für mich bist du kein Ketzer«, sagte Jewgenij sanft. »Und auch kein Tier.«

Johannes’ Herz machte einen Satz, als er eine kurze Umarmung spürte. Jewgenijs Augen waren dunkle Seen, in denen er Verletzlichkeit schimmern sah. Mit einem Mal begriff Johannes, was Jewgenij für diese Freundschaft bezahlte. Sie waren beide Frontläufer – feindliche Soldaten, die beschlossen hatten sich die Hand zu geben. Warum ließ er sich da von den Worten einer todkranken, hasserfüllten Frau verunsichern? »Danke«, sagte er leise.

Jewgenij nickte knapp und ließ ihn los. Die alte Unnahbarkeit umfing ihn wieder wie ein Tarnmantel.

»Nun, jetzt kennst du wenigstens mein prächtiges Haus und meine hochwohlgeborene Familie. Was willst du hier, außer dir in den nassen Kleidern den Tod holen?«

Johannes blinzelte und besann sich auf den Grund seines Hierseins. »Ich weiß, wer das Unterpfand hat – die rote Perle der Russalkas!«

Während er von Derejew und der Verschwörung erzählte, von dem Bojaren, der die Perle besaß und der an Oberst Derejew schrieb, vergaß er, dass er nass war und fror. Jewgenijs Augen wurden größer und größer. »Derejew schützt für Karpakow die Russalkas. Er wollte nicht, dass die Russalka entdeckt wird, deshalb hat er die Geschichte mit Natascha erfunden.«

»Und Karpakow, der Hüter der Perle, ist auf dem Weg in die Stadt?«

»Sein Brief kam aus Jesengorod. Und die Russalka träumt davon, dass der Schatz sich der Newa nähert.

Viel schwieriger wird es sein, herauszufinden, was Karpakow mit der Perle vorhat.«

Jewgenijs Mund war ein wutbleicher Strich. »Das ist überhaupt nicht schwer. Er löst sein Pfand ein.

Die Russalkas können das Wasser rufen. Er will … die Stadt auslöschen und den Zaren vernichten.«

Johannes ließ die Worte in sich nachklingen. Sie klangen hohl und blechern. »Carsten Sund hat von einer Flut gesprochen. Er meinte, eine Flutwelle würde genügen die Stadt einfach wegzuspülen. Die Kanäle sind nicht tief genug um das Hochwasser aufzufangen.«

»Wenn es ihm gelingt, leben die Russalkas und können in das Meer zurückkehren. Der Zar aber stirbt und mit ihm viele Menschen in der Stadt«, fuhr Jewgenij fort. »Gelingt es ihm nicht, sterben die Russalkas, denn dann können sie nicht fliehen und der Zar wird sie töten lassen.«

Sie schwiegen eine Weile und dachten beide denselben Gedanken. Verstohlen musterte Johannes seinen Freund und ertappte ihn dabei, wie er ihm ebenfalls einen zweifelnden Blick zuwarf. Beide mussten lachen.

»Sag schon«, meinte Johannes.

Jewgenij streckte sich. »Wir können die Stadt und die Russalkas retten. Und dazu müssen wir Karpakows Perle den Russalkas zurückbringen.«

»Beschlossene Sache also«, sagte Johannes. »Wir suchen Karpakow und stehlen ihm die Perle.«

»Wenn wir sie ihm stehlen, wird er den Dieb suchen lassen«, gab Jewgenij zu bedenken. »Was glaubst du, wie viele von Derejews Verschwörern uns auf einmal auf den Fersen wären? Nein …« – er grinste wie ein Verschwörer – »… wir werden die Perle vertauschen.«

Johannes sah seinen Freund anerkennend an.

»Gut«, sagte er und lachte. »Lass uns im Wahnsinn sterben. Und wo willst du eine rote Perle herbekommen?«

Jewgenij zuckte mit den Schultern. »Für die Russalkas hole ich dir den Mond vom Himmel. Lass uns hoffen, dass Karpakow noch in Jesengorod ist.«

»Alles andere ergäbe keinen Sinn. Der Zar ist in Moskau und kommt erst in fünf Tagen wieder nach Sankt Petersburg zurück«, erwiderte Johannes. »Du besorgst die Perle – ich das Geld für die Reise nach Jesengorod.«

Weiße Wölfe

Jewgenij fühlte sich sichtlich unwohl in der Kammer.

Auf dem Tisch lag ein unglaublich großer Haufen von neuen, noch glänzenden Kopeken. Sie waren nicht rund, sondern oval, die eine Seite zeigte den heiligen Georg mit der Lanze, auf der anderen waren Zar Peters Name und das Jahr der Prägung verzeichnet. 1705, las Johannes auf einer Münze. Zehn davon ergaben eine Griffne, fünfzig ein Poltin und hundert einen Rubel.

Und hier auf dem Tisch lagen einige Rubel. Johannes musste sich noch daran gewöhnen, dass dieses Geld ihm gehörte – die Bezahlung, die er von Carsten Sund für das Modell der Sankt Paul bekommen hatte. Obwohl er das Schiffsmodell für die Russalka verkauft hatte, war es Johannes so schwer gefallen, dass er das viele Geld nur mit Unbehagen betrachten konnte. Marfa hatte tiefe Schatten unter den Augen. Es war schwierig gewesen, Michael unter einem Vorwand aus dem Haus zu schicken. Insgeheim war Johannes erleichtert, dass Iwan Michael begleitete. Immer noch traute er dem alten Leibeigenen nicht über den Weg.

Die Begrüßung von Jewgenij war nicht gerade herzlich ausgefallen. Marfa hatte den Jungen kühl gemustert und ihm dann höflich die Hand gereicht.

Wie jedem Gast hatte sie ihm Kwass, Brot und Fleisch hingestellt, aber Johannes hatte das Gefühl, dass Marfa eine Katze war und Jewgenij ein Hund.

Sie würden keine Freunde sein.

Unter dem strengen Blick von Marfa wusste Jewgenij offensichtlich auch jetzt nicht, wie er sich benehmen sollte. Zusammengesunken saß er auf dem Stuhl und spielte nervös mit einem Zipfel seines lumpigen Hemds.

»So kannst du nicht reisen«, sagte Marfa. »Jeder wird denken, du bist ein Läufling.« Ohne ein Widerwort zu dulden stand sie auf und holte aus einer Truhe Johannes’ altes Hemd hervor – dasselbe Hemd, das er während der Prügelei mit Jewgenij zerrissen hatte. Marfa hatte es ausgebessert. Nun setzte sie sich hin, zückte ihre Nadel und begann die Ärmel umzuschlagen. »Johannes, geh in unsere Kammer und hol deinem Freund den grünen Reiserock, der dir nicht mehr passt«, befahl sie. Jewgenij wurde knallrot im Gesicht, aber er widersprach nicht. Auf eine faszinierende Weise übte Marfa eine Autorität auf den Jungen aus, die Johannes nicht nachvollziehen konnte. So gefügig und höflich hatte er seinen ruppigen Freund noch nie erlebt. »Und – rechts neben dem Bett in der Truhe liegt noch etwas, das ihr mitnehmen müsst.«

Johannes stand auf und schob den Wollvorhang beiseite. Es kam ihm seltsam vor, die Kammer von Onkel Michael und Marfa zu betreten. Sie war erstaunlich heimelig. Auf dem Bett, das Onkel Michael mit großer Sorgfalt gezimmert hatte, lag eine bestickte Decke. Goldfäden glitzerten im Mittagslicht, das durch das halb offene Fenster fiel. Ein Zeichen alter, verblasster Pracht aus einer anderen Zeit, als Marfas Familie noch wohlhabend gewesen war. Der runde Spiegel, der ansonsten bei der Tür hing, lag auf dem Bett. In der Truhe fand Johannes einen Brief. Ein Apothekersiegel knisterte unter Johannes’ Fingern.