Er verließ die Kammer rasch wieder und setzte sich zu Marfa an den Tisch.
»Mach den Brief auf«, befahl sie.
Johannes gehorchte und erkannte die Schrift von Thomas Rosentrost. »Ein Sendschreiben? Von Rosentrost?«, sagte er verblüfft. »Warum?«
Marfa lächelte. »Weil ich ihn darum gebeten habe.
Wenn jemand fragt, warum du nicht in der Werkstatt bist, ist Thomas Rosentrosts Auftrag der glaubwürdigste Grund.
Thomas wird bestätigen, dass er eine Fuhre ätherischer Öle aus den Moskauer Apothekergärten erwartet und einen Boten schicken wollte, der sie in Jesengorod persönlich abholen soll. Da sein Bote krank geworden ist, hat er dich gebeten einzuspringen. Und einen Apothekergesellen, den Alchimisten da …« –
sie deutete mit einem Wink auf Jewgenij – »…
nimmst du mit.« Jewgenij sah verunsichert auf das Schriftstück.
»Danke, Marfa!«, sagte Johannes.
»Hier«, wandte Marfa sich an Jewgenij und biss den Faden ab. »Zieh das Hemd an. Geh in die Kammer und bringe dein Haar in Ordnung. Ich habe den Spiegel auf das Bett gelegt. Versuche auszusehen wie jemand, der sich nicht verstecken muss.«
Jewgenij schnappte sich das Hemd und den Reiserock und verschwand gehorsam in der Kammer. Johannes beugte sich noch einmal über das Sendschreiben und studierte es eingehend. Sein Name war genannt, aber anstelle von Jewgenijs Namen stand dort Alexej Sergejewitsch Palot. »Was ist das für ein Name?«, fragte er.
»Das ist der neue Apothekengehilfe, der erst demnächst aus Moskau eintreffen wird. Für die nächsten Tage wird Jewgenij sich seinen Namen leihen.«
»Was werde ich mir leihen?«, fragte Jewgenij. Er stand wieder im Raum, sein Haar hatte er glatt gestrichen, das saubere Hemd und der Rock ließen ihn wie einen anständigen Reisenden aussehen. In einem anderen Gewand, so erkannte Johannes verblüfft, hätte sein Freund ohne Mühe als Bürger oder sogar Adliger gelten können. Dass er so ernst war, ließ sein Gesicht nur noch ebenmäßiger aussehen. Er war wirklich ein gut aussehender Junge. Johannes starrte ihn an, bis Jewgenij grinsen musste.
»Du wirst Alexej Sergejewitsch Palot heißen«, erklärte Marfa. »Merk dir den Namen gut.«
Jewgenijs Grinsen verschwand. »Ich habe einen Namen«, sagte er trotzig. »Er lautet Jewgenij.«
Marfa zog ironisch einen Mundwinkel hoch.
»Manchmal muss man lügen«, erwiderte sie und warf Jewgenij einen scharfen Blick zu. Zu Johannes’ Überraschung machte Jewgenij den Mund wieder zu und gab Marfa keine Antwort.
Als Erster brach Johannes auf. Marfa verabschiedete sich schnell von ihm. »Fünf Tage«, sagte sie, als sie ihn kurz umarmte. »Fünf Tage, ich warte!«
Stumpfe Gesichter trieben an ihm vorbei, als er sich ohne Jewgenij auf den Weg über das sumpfige Gelände machte. Er schlitterte über glitschige Bretter, die einen Weg ersetzten. Verstohlen hielt er dabei Ausschau nach Derejew oder seinen Verbündeten, aber heute schien ihm niemand zu folgen. Kurz glaubte er Mitja zu entdecken, aber so schnell, wie er aufgetaucht war, verschwand der Gottesnarr wieder.
Im Stillen schickte Johannes ein Stoßgebet zum Himmel, dass keiner von Zar Peters Leuten die Russalka fand, während sie blind für alle Gefahren mit dem Gottesnarren ihre seltsamen Gespräche führte.
Fast hatte Johannes schon den Rand des Lagers erreicht, da hörte er plötzlich Schritte hinter sich. Ohne nachzudenken schob er die Hand unter sein Hemd und zog das Sendschreiben hervor. Sein Atem wurde schnell, während er sich zwang sich nicht ertappt zu fühlen. Er hatte schließlich einen Auftrag von Thomas Rosentrost. Als hätte er jetzt erst den Schritt bemerkt, blieb er stehen und wandte sich um. Seine Knie wurden weich. Beinahe hätte er laut geflucht.
Iwan keuchte vom schnellen Lauf. Sein Bart war zerzaust und seine Lunge rasselte bei jedem Atemzug wie ein Sack voll Ketten. Johannes presste die Lippen zusammen und sah sich unruhig um. Gleich würden die Verschwörer hinter den Birken hervorkommen und ihn umzingeln. Ohne ein Wort zu sagen stürzte Iwan die letzten paar Schritte zu ihm und blieb stehen. Hastig nahm er Johannes’ Hand und drückte einen harten Gegenstand hinein. Wässrig blaue Augen blickten Johannes vorwurfsvoll an, dann trat der alte Mann den Rückweg an, ohne sich noch einmal umzusehen. Verblüfft hielt Johannes den kleinen Gegenstand fest. Erst nach einer Weile öffnete er die Hand und betrachtete Iwans Geschenk.
Es war eine winzige geschnitzte Madonna.
* * *
Zu seinem Erstaunen war Jewgenij bereits beim verabredeten Ort hinter den Birken. Allerdings konnte er schlecht verbergen, dass er außer Atem war. Trotzdem – er musste eine Abkürzung kennen und wie der Teufel gelaufen sein. Selbstbewusst und mit einem breiten Grinsen lehnte er an einem Baumstamm. »Na endlich, Brehmow! Wollte die Russalka noch einen Abschiedskuss?«
»Red nicht, Russe«, gab Johannes zurück. »Wo geht es lang?«
Jewgenij deutete nach Süden und sie machten sich auf den Weg. Zügig liefen sie durch den allmählich dichter werdenden Wald, keine Diebe und Geheimniskrämer mehr, sondern zwei junge Männer mit dem Auftrag eines Arztes, mit Brief und Siegel, unterwegs nach Jesengorod. Je weiter sie sich von dem sumpfigen Flussgebiet entfernten, umso grüner wurde der Wald. Laubbäume spannten ihr Dach über ihren Köpfen auf, Farne und Beerensträucher wuchsen auf dem Weg. Obwohl sie ihre Schuhe damit nicht schonten, gingen Johannes und Jewgenij ein gutes Stück neben dem ohnehin nur schlecht gerichteten Weg. Weit genug um sich im Wald zu verbergen – nah genug um keinen Reisenden, der ihnen auf dem Weg entgegenkam, zu verpassen. Der alte Kompass, den Johannes noch in Moskau gegen eine Zimmermannsarbeit eingetauscht hatte, leistete ihnen gute Dienste, denn ab und zu waren sie nicht mehr sicher, wo sich der Weg befand. Bald wurde der Marsch anstrengend, das Hochgefühl verflog. Schweigend liefen sie nebeneinanderher und rasteten nur kurz um etwas zu essen. Lange würden die Vorräte nicht reichen, aber Jewgenij musterte schon seit geraumer Zeit das Buschwerk und hielt nach Rebhühnern Ausschau. Am Spätnachmittag verschwand die diesige Sonne ganz hinter Wolken und sie mussten sich unter einen Baum mit tief hängenden Ästen zurückziehen um zu vermeiden, dass alle Vorräte im Regen nass wurden. Im Zwielicht des Gewitters, das über ihnen niederging, funkelte der Wald wie eine Schatztruhe, gefüllt mit Kristalltropfen und grünen Juwelen. Wie sehr hatte Johannes der frische Duft von Moos und lebendem Holz gefehlt! Schulter an Schulter warteten Jewgenij und er, bis das Gewitter vorbei war.
In der Dämmerung begannen sich die Geräusche zu verändern, das Knacken im Geäst bekam einen Hall. Weit entfernt im Unterholz erblickte Johannes einen gewaltigen Schatten. Wie mächtige Schiffe trieben Geweihschaufeln eines Elchs zwischen Laub und Ästen. Beinahe ohne zu atmen beobachteten Johannes und Jewgenij, wie das riesige Tier gemächlich an ihnen vorüberzog.
Der Abend legte seinen dunklen Mantel über die Bäume, Augen begannen zu leuchten. Die Augustnacht trug nur noch eine leise Erinnerung an die weißen Nächte mit sich. Für das Nachtlager rollte Johannes die Wolldecke aus, die Marfa ihm mitgegeben hatte. Die Reiseröcke hängten sie an die Zweige eines Baumes, damit sie nicht zerknitterten, und rückten eng zusammen. Es war angenehm, Jewgenijs Wärme zu spüren, und Johannes war wieder einmal irritiert, wie nahe er sich seinem Freund fühlte.
»Siehst du das?«, flüsterte Jewgenij und deutete auf einen Schatten. »Ist das ein Bär?«
Johannes schauderte und rückte unwillkürlich noch näher an seinen Freund heran. »Es gibt hier doch keine Bären, oder?«
»Was fragst du mich?«, gab Jewgenij mit leiser Stimme zurück. »Wenn du wissen willst, ob das ein Gurkenfisch ist, dann kann ich es dir sagen, aber für Tiere, die zwischen Bäumen leben, bist du zuständig.«