Einen Moment standen sie befangen da, dann trat Jelena einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf.
»Nein, Johannes«, sagte sie leise und so nachsichtig, wie die Russalka Mitja den Weg in die Newa verweigerte. Hastig rollte sie die Decke zusammen und wandte sich von Johannes ab, der hilflos dastand, zurückgestoßen, in den Staub getreten und allein.
Die letzten Meilen nach Jesengorod kam sich Johannes so vor, als müsste er auf einem Teppich aus den Scherben ihrer Freundschaft laufen. Dieser eine Moment, der Blick auf ein verborgenes Leinenband, hatte genügt, um die Wirklichkeit vollständig zu verdrehen. Während sie nebeneinanderher gingen und es vermieden, sich anzusehen, rief sich Johannes jeden Augenblick, der ihn mit Jewgenij verband, noch einmal ins Gedächtnis – von der Prügelei über die Begegnung mit der Russalka bis hin zu Jewgenijs Besuch bei Marfa. Grimmig lächelte er. Natürlich hatte auch Marfa es gewusst, warum sonst hätte sie Jelena zum Umkleiden in die andere Kammer geschickt. Die Tatsache, dass er im Nachhinein immer mehr Hinweise fand, ärgerte ihn maßlos. Inzwischen wuchs die unangenehm dichte Stille zwischen ihnen zur Mauer. Etwa alle hundert Schritte fragte er sich, ob es besser gewesen wäre, er hätte Jelenas Geheimnis nie entdeckt.
Die Stadt, die sie nach strenger Prüfung des Sendschreibens betraten, war eine sehr alte Siedlung.
Umgeben war Jesengorod von einer hohen Kremlmauer, die einige Jahrhunderte alt sein mochte. Mitten auf dem größten Platz stand eine prächtige Holzkirche mit drei goldenen Kuppeln. Jede Kuppel trug ein Kreuz. Das Gold glänzte in der Nachmittagssonne. Seltsamerweise fühlte Johannes sich mit jedem Schritt mehr an Moskau erinnert. Er brauchte einige Zeit, bis er darauf kam, woran das lag: Auch viele Moskauer Straßen waren aus Eichenbrettern gefertigt und ruhten auf erhöhten Holzfundamenten. Johannes sah es nicht, aber er wusste, dass unter den Eichenbrettern, über die sie nun schritten, mit Birkenrinde verbundene Holzrohre lagen, die das Tauwasser oder den Regen ableiteten.
Auch die meisten Häuser waren aus Holz, es gab nur wenige Gebäude, die zwei Stockwerke hatten. In der Mitte der Stadt sowie nord– und südwärts ragten hohe Wachtürme auf. Wächter standen darauf, deren Aufgabe es war, Brände zu melden. Johannes kniff die Augen zusammen und erkannte die Flaggen aus schwarzem Leder, die die Feuerwächter schwenken würden, sobald sie einen Brand erspähten. In der Nacht warnten sie dagegen mit Fackeln.
Johannes zuckte zusammen, als Jelena sich an ihn herandrängte. Doch die Hoffnung, es könnte sich um eine Geste der Zuneigung handeln, zerstob, als er sah, wie sie die Gebäude und Straßen musterte. Obwohl sie versuchte ein gleichgültiges Gesicht zu machen, konnte sie nicht verbergen, wie beeindruckt und eingeschüchtert sie war. Im Gegensatz zu ihm war sie noch nie in einer Stadt gewesen – alles, was sie kannte, waren die Sümpfe. Trotzdem genoss er diesen unverhofften Augenblick der Nähe und wich ihr nicht aus. Im Geschäftsviertel saßen Gefangene neben der Straße, die Beine in Schraubstöcke gezwängt, bettelten um Nahrung und erwarteten ihr weiteres Schicksal. Vermutlich würde es sie mit der nächsten Fuhre direkt nach Sankt Petersburg führen, wo sie ihre Strafe abarbeiten mussten.
Johannes entdeckte einen Popen mit langem Bart und einem Kreuz, das er an einer Kette vor der Brust trug. Auf dem Marktplatz wurden Fuhrwerke mit Getreidesäcken beladen und ein Soldat kontrollierte die Fuhre mit Argusaugen. Wahrscheinlich ein neuer Transport nach Sankt Petersburg. Mit Unbehagen bemerkte Johannes auch finstere Blicke, die die beiden Reisenden nach lohnenden Gegenständen absuchten.
»Jetzt müssen wir nur noch ungefähr tausend Leute nach Karpakow fragen«, sagte Jelena mutlos.
Es waren die ersten Worte, die sie seit dem Morgen in der Scheune gesprochen hatten. Johannes räusperte sich.
»Wir sollten in der Amtsstube nachfragen. Neuankömmlinge, die auf dem Weg nach Sankt Petersburg sind, werden dort registriert und können Nachrichten hinterlassen.«
»Und wenn der Beamte mit Derejew gemeinsame Sache macht? Ich wette, die ganze Stadt ist voll von Verschwörern.«
Da musste Johannes ihr Recht geben. Unauffällig zogen sie sich in den Schatten eines Daches zurück.
»Wir müssen unsichtbar werden«, sagte Jelena.
»Vielleicht sollten wir uns trennen und auf die Suche gehen. Ich könnte mich bei der Kirche umsehen.«
»Die Kirche!«, rief Johannes. »Natürlich! Er ist ein Altgläubiger. Er wird den Gottesdienst besuchen.«
Zweifelnd sah Jelena ihn an. »Dich werden sie kaum in die Kirche einlassen, du fällst auf wie ein grünes Schaf. Und ich …« Nachdenklich betrachtete sie ihren Reiserock und schüttelte den Kopf. »Ich brauche andere Kleidung. Komm!«
Schon hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und strebte einer halb versteckten Gasse zu. Als Johannes um die Ecke bog, drückte sie ihm ihren Rock in die Hand. »Warte im Schatten«, flüsterte sie ihm zu.
Dann huschte sie an der Hauswand entlang. Ehe er sichs versah, sprang sie an der Holzwand hoch. Der Atem stockte ihm, als sie sich zum Fenster hochzog und weiter zum nächsten Stock kletterte, immer in Gefahr, einen falschen Griff zu tun und abzustürzen.
Das obere Fenster war geöffnet, ein grobes graues Hemd hing zum Lüften heraus. Johannes drückte sich noch tiefer in den Schatten und blickte sich besorgt um. Noch war niemand im Hinterhof, aber er hörte das Klappern von Schüsseln und eine keifende Stimme, die ein heulendes Kind zurechtwies. Jeden Augenblick konnte jemand auftauchen und Jelena entdecken. Flink erklomm sie gerade den Fenstervorsprung und zog behutsam das Hemd zu sich heran. In einer Sekunde hatte sie es sich über die Schulter geworfen, pendelte sofort wieder ihr Gleichgewicht aus und kletterte hinunter. Kurz über dem ersten Fenster sprang sie und landete mit einem trockenen Schlag auf dem Boden.
»Weg!«, formten ihre Lippen und im nächsten Moment flohen sie aus dem Hinterhof. Kaum hatten sie die Hauptstraße erreicht, erscholl ein Schrei aus dem Hof. Stimmen und Rufe wurden laut. Abrupt blieben Jelena und Johannes stehen. In weniger als einem Augenblick war Jelena wieder in den Reiserock geschlüpft, hatte die Ärmel zurechtgezupft und stopfte rasch das Hemd in ihren Beutel. Leute kamen ihnen entgegen.
»Ein Dieb? Wo ist ein Dieb?«, rief ihnen ein Mann zu und Jelena deutete auf den Hinterhof. Langsam entfernten sie sich und schlugen sich unauffällig in andere Straßen, bis sie weit entfernt vom Tatort waren. Johannes war immer noch blass und zittrig.
»Ich werde in die Kirche gehen«, sagte Jelena. »In diesem Hemd sehe ich aus wie ein ganz gewöhnlicher Arbeiter. Woran erkenne ich Karpakow?«
»Ein Altgläubiger«, erwiderte Johannes. »Ein großer Bojar, mein Onkel glaubte sich daran zu erinnern, dass er eine Narbe hatte. Hier!« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Nasenwurzel.
Jelena nickte. »Gut, gib mir deinen Gürtel. Und dein Halstuch.«
Johannes gehorchte und packte den Rock sorgfältig in das Gepäckbündel. Zufällig fand er Iwans Madonnenfigur und reichte sie Jelena, die sie nach kurzem Stirnrunzeln annahm. Nicht weit entfernt begannen bereits die kupfernen Kirchenglocken zu läuten. Für die ganze Dauer des Gottesdienstes würde ihr Klang die Stadt umhüllen.
»Wir sehen uns heute Abend – wenn wir uns verfehlen, warte ich an dieser Stelle!«, flüsterte er und Jelena nickte und lief los. Lange sah Johannes ihr mit einem bangen Gefühl nach. Seine Nerven waren immer noch angespannt und er merkte, wie müde er war. Langsamen Schrittes schlenderte er in Richtung Kirchplatz. Hier würden sie keine leer stehende Scheune finden und es war nicht ratsam, die Nacht auf der Straße zu verbringen. Nach dem Gottesdienst würden die Bürger in ihre Häuser gehen und auf den Straßen würde das Treibgut der Stadt zurückbleiben – zwielichtige Händler und Gestalten, denen man besser nicht mit einem vollen Geldsack begegnete.