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Verstohlen betrachtete er die Menschen, die sich vor der Kirche versammelten. In einer kleinen Gruppe standen mehrere Männer zusammen. Zwei davon trugen lange Bärte und waren prächtig und reich gekleidet. Silberfäden glänzten im späten Licht. Allerdings wagten auch diese Adligen es offenbar nicht, die langen Bojarenkaftane zu tragen. Ganz nach Zar Peters Anweisung trugen sie kürzere Mäntel, die ihnen nur bis zu den Knien reichten. Unter den Kirchgängern waren Bürger und Leibeigene, die ihre Mützen abnahmen und sie an die Brust pressten, es waren Kinder dabei und Mütter, die keinen Zahn mehr im Mund hatten. Auch eine hübsche Bürgerin entdeckte Johannes. Es war eine junge Frau, die am Arm eines älteren Händlers zur Kirche ging. Sie trug ein orientalisch anmutendes Gewand mit langen bestickten Ärmeln. Als sie den Kopf wandte und Johannes ihr Profil sehen konnte, staunte er über ihr hübsches Gesicht und ihre zarte Haut. Sie hatte lange Wimpern – wie Jelena. Bei Gedanken an Jelenas Augen und ihren federnden Gang wurde die schöne Frau zu einer bemalten Maske. Mehrere bange Momente hatte Johannes Angst, dass Jelena ihn verlassen hatte und nie wiederkehren würde. Natürlich war diese Angst unbegründet. Die Russalka war ein sehr festes Band. Aber was würde geschehen, wenn die Russalkas ins Meer zurückkehrten? Die Mutlosigkeit drohte ihn zu übermannen, er wandte sich von der Kirche ab und trat zu einem Knecht, der gerade dabei war, das Pferd eines Reichen zu einem der Fässer zu führen, die als Tränken aufgestellt waren. »He!«, rief er ihm zu. »Gibt es eine Herberge hier?«

Der Knecht runzelte die unglaublich zerfurchte Stirn. »Da drüben«, brummte er und deutete mit dem Kopf zu den Gassen neben der Kirche. »Bei Kolja.«

Johannes umging die engste Gasse, die in der Sommersonne stank, und fand schließlich ein wuchtiges Holzhaus in einem viel zu kleinen Hof. Ein Stall war auf abenteuerliche Weise zwischen dem Gebäude und dem Nebenhaus eingekeilt. Schnauben und Scharren darin ließen vermuten, dass Gäste in der Herberge waren. Es war ein großes Haus, vielleicht gehörte es einem verarmten Bürger, der sich mit der Vermietung von Räumen etwas dazuverdiente.

Johannes lugte in den Stall und fand tatsächlich vier Pferde und einen Stallknecht, der ihm zwar auf seine Frage nach Kolja nicht antwortete, ihn aber mit einer Geste zum Haus schickte. Die Tür stand offen.

Johannes trat ein und sah sich einem Zahnlosen gegenüber, der am Tisch Kartoffeln schälte. »Bin ich bei Kolja?«, fragte er. »Ich suche eine Unterkunft.«

Der Alte warf das Messer hin und schoss unglaublich behände in die Höhe. »Herein, der Herr!«, lispelte er. »Eine Nacht in meinem Haus? Ich habe viele Gäste heute, aber ein Plätzchen findet sich.«

Das Plätzchen war ein dunkler Verschlag im hinteren Teil des Hauses. Johannes betrachtete das Fenster und schätzte ab, ob es groß genug war, um sich, wenn nötig, hindurchzuzwängen. Immerhin stand eine breite, stümperhaft zusammengenagelte Bettstatt darin und Kolja wurde nicht müde zu grinsen, als Johannes ihm bedeutete, dass er das Zimmer nehmen würde. Kaum hatte Kolja die schartige Tür geschlossen, atmete Johannes auf. Nachdem er die verschlissene Decke vom Bett genommen und seine eigene darübergebreitet hatte, setzte er sich auf den Strohsack, der als Unterlage diente, und stützte den Kopf in die Hände. Blitze leuchteten hinter seinen geschlossenen Lidern auf und die Müdigkeit ergriff von ihm Besitz. Das Schlimmste war das Gefühl der Leere und Verzweiflung in seiner Brust – die Sehnsucht nach Jelena und das Gefühl eines großen Verlustes. Obwohl es paradox erschien, war der Schmerz, sich von Christine zu trennen, ein Nichts gegen die Aussicht, Jelena nie wieder zu küssen, ein lächerliches Staubkorn in einem Strom aus Gefühlen. Er hatte es verdorben und Jelena verloren, bevor er die Möglichkeit gehabt hatte, sie zu gewinnen. Mühsam nahm er sich zusammen und rieb die Augen, bis das Pochen in seinen Schläfen ein wenig nachließ. Die Russalkas, die Stadt und Zar Peter – darum ging es jetzt!

Bevor er sich wieder auf den Weg machte, steckte er Kolja einige Münzen zu, nahm einen Krug mit wässrigem Kwass entgegen und hörte sich ein paar Sätze über die Stadt an, ein paar Gerüchte über Sankt Petersburg und über den Zaren, ein paar Bemerkungen zu den vielen Ausländern, die hier Station machten, bevor sie in Richtung Newa weiterreisten. Nach Karpakow fragte er nicht, es war ohnehin unwahrscheinlich, dass Kolja einen Adligen kannte oder wusste, in welcher Herberge er sich aufhielt. Es würde eine deutlich bessere sein als die hier. Es dämmerte bereits, als er sich wieder zur Kirche aufmachte.

Dutzende von Kirchgängern kamen ihm entgegen.

Er dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich Jelena entdeckte. Unauffällig wartete sie am Rand einer Straße und beobachtete vier Adlige, die sich murmelnd unterhielten, während sie zu ihren Pferden zurückkehrten. Johannes ging an Jelena vorbei und spazierte zu einer Gasse weiter, in die er einbog.

Kurz darauf kam Jelena nach. Noch bevor Johannes fragen konnte, schüttelte sie den Kopf. »Kein Bojar mit einer Narbe«, sagte sie leise. Sie sah sich um und zog Johannes aus dem Schatten der Wand.

Ihre Augen funkelten. »Aber ich habe etwas anderes gehört. Komm mit!«

Im nächsten Augenblick waren sie wieder auf der Straße. Jelena kniff die Augen zusammen und schien erleichtert zu sein, als sie die Gruppe der Adligen entdeckte. Bei ihnen stand ein Mann in einem langen schwarzen Mantel. Auf dem Kopf trug er eine Art Haubenbinde. Johannes wusste, es war eine »Skuffia«, das Zeichen, dass der Mann ein Geistlicher war – ein Pope.

»Wir folgen ihm«, flüsterte Jelena. »Er ist nicht aus Jesengorod. Ich habe gehört, wie er sich mit einem Mann aus Moskau unterhalten hat.« Jelenas Stimme wurde noch leiser. Sie beugte sich so weit vor, dass Johannes für einen verwirrenden Augenblick ihr Haar an seiner Wange spürte. »Er sagte auch: ›Was ist das für ein Zar? Von Deutschen erzogen und selbst ein Deutscher zwingt er anständige Bürger sich wie Ketzer zu kleiden.‹«

Johannes wurde kalt. Onkel Michael hatte ihm erzählt, dass ein Pope in Karpakows Haus lebte – und auch der einäugige Arbeiter hatte einen Geistlichen erwähnt, der in Jesengorod davon sprach, dass der Zar mit seiner Stadt untergehen würde. Konnte es sein, dass Karpakow schon länger in Jesengorod weilte? »Gut«, meinte er. »Finden wir heraus, wo die Verschwörer ihr Nest haben.«

Es war nicht einfach, den Mann im Auge zu behalten. Wie eine magere Straßenkatze huschte er von Schatten zu Schatten, lief rasch über Plätze und Gassen und sah sich mehrmals um, ohne dass ihm Johannes und Jelena aufgefallen wären. Bald befanden sie sich in einem prächtigen Viertel der Stadt. Hohe Häuser standen hier, zum Teil aus Stein erbaut, die meisten jedoch aus Holz. Die Dächer waren so steil, dass der Schnee im Winter herabrutschte. Einige Gebäude standen erhöht auf hölzernen Stelzen, überdachte Treppen führten zu den Räumen. An Dachsparren und Firstbalken waren kunstvolle Schnitzereien zu erkennen. Solche »Holzstickereien« hatte Johannes schon oft bewundert. Nicht weniger kunstvoll waren die verzierten Balustraden.

Der Pope huschte über einen kleinen Hof und verschwand durch die Tür ins Innere eines Hauses. Johannes und Jelena blieben stehen und verbargen sich neben der Mauer. Die Dämmerung senkte sich über die Stadt. Das Haus lag am Ende der Straße. Auf wuchtigen Holzwänden ruhte ein ausladendes Dach.

Es war das Haus eines Patriarchen, eines Adligen, der die Tradition liebte. Über der Tür war ein Wappen eingeschnitzt. Ein Fisch mit zwei Vogelschwingen.

»Karpakow lebt also nicht in einer Herberge«, flüsterte Johannes. »Wer weiß, wie lange es her ist, seit er aus Moskau hierher umgezogen ist.«

»Vermutlich, als Zar Peter angefangen hat die neue Stadt zu bauen«, erwiderte Jelena. Unsicher betrachtete sie die Fenster. »Du kennst dich doch aus mit dieser Art von Häusern. Wo lebt der Hausherr?«