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»Wer bist du?«, fragte eine heisere, trunkene Stimme. »Ich höre dich.« Die Aussprache war verwaschen und mit einem Mal konnte Johannes auch den seltsamen Geruch im Zimmer zuordnen. Es stank nach schnapsgetränkten Atemzügen. Das kann nicht Karpakow sein, dachte er. Als altehrwürdiger Gläubiger wird er sich nicht betrinken. Oder doch?

In diesem Augenblick verschwand die Hand und ein gewaltiger Schatten löste sich von der Lehne. Im Dämmerlicht des Zimmers leuchtete langes weißes Haar. Der Bojar schwankte und griff nach der Lehne, dann drehte er sich um und trat neben den Stuhl. Ein verwüstetes, rotes Gesicht erschien, aus dem der Stolz noch nicht gewichen war. Der Bart fiel ihm bis auf die Brust. Zwischen seinen Augen klaffte eine waagrechte Scharte, als hätte er dort vor Jahren einen Schwerthieb oder einen Stich erlitten. Ketten schmückten seine breite Brust. Karpakow war ein gebrochener Riese mit stechenden Augen, die nun weit aufgerissen waren. Panik zeichnete sich in dem zerfurchten Gesicht ab. Seine Finger waren weiß, so fest klammerte er sich an die Lehne. Johannes saß in der Falle.

»Du bist es«, flüsterte der Alte. Seine Gesichtsfar-be wechselte von Rot zu einem gespenstischen Weiß.

»Der Teufel!«

Im Spiegel von Karpakows entsetzten Augen sah sich Johannes plötzlich so, wie der alte Mann ihn wahrnehmen musste – eine lauernde Gestalt mit schwarzem Gesicht und hellem Haar, das im Kerzenschein leuchtete. Eine Chance blinkte wie ein Spanfunke in der Dunkelheit auf. Er kam sich vor, als würde er auf einem schmalen Dachvorsprung balancieren. Noch war Karpakow von der Trunkenheit und vom Schlaf benebelt, noch wusste er nicht, was wirklich war und was er nur träumte. Er würde nicht fliehen, beschloss Johannes. Solange Karpakow glaubte, er sei der Teufel, würde er nicht nach seinem Gesinde rufen.

»Du siehst gut, alter Mann«, sagte Johannes leise und übertrieb seinen deutschen Akzent. »Ich bin hier, Karpakow! Wage es nicht, Hilfe zu rufen. Wer mein Antlitz sieht, wird dort verbrennen, wo er steht.«

Der Alte schwankte wie unter einem Hieb, aber nach einer Weile machte er den Mund zu, wischte sich mit müder Hand über die Stirn und nickte. »Ja«, flüsterte er. »Ja, ja. Ich habe auf dich gewartet. So viele Nächte ohne Schlaf. Ich wusste, du würdest kommen, um meine Frage zu beantworten.«

Johannes nickte. »Darum bin ich hier.«

»Warum musste es Sergej sein?«, rief der Alte.

Johannes zuckte zusammen, aber niemand schien den Ruf gehört zu haben – oder die Diener waren es gewohnt, dass ihr Herr betrunken herumschrie. »Warum nicht er?«, erwiderte Johannes geistesgegenwärtig.

Zorn glomm in den alten, erloschenen Augen auf.

»Das passt zu dir«, sagte Karpakow bitter. »Du warst es, der ihn verführt hat, in der Kremlgarde zu dienen.

Und nun verspottest du mich und willst, dass ich mir selbst die Wunden aufreiße und sie mit Salz bestreue.

Nun, das wird dir nicht gelingen. Es kostet mich nicht meine Seele, über Sergej zu reden, längst nicht mehr.«

Johannes schwieg, was Karpakow zu genügen schien. Der Bojar betrachtete abwesend den Boden vor sich und erinnerte in erstaunlicher Weise an Mitja. Karpakow war wahnsinnig, erkannte Johannes.

Oder zumindest so betrunken, dass er dem Wahnsinn nahe war. Trotzdem konnte er nicht anders als den Alten für seinen Mut zu bewundern. Egal wie viel Branntwein in seinen Adern fließen mochte – mit dem Teufel hätte sich nicht jeder angelegt.

»Das Messer«, krächzte er nun. »Dort draußen auf dem Schrank. Das ist alles, was mir von ihm geblieben ist. Er war wie ein Sohn für mich. Nach dem Aufstand haben sie ihn durch die Straßen von Moskau geschleift und nach Bebraschenskoje ins Verlies gebracht. Er wurde ausgepeitscht und gebrannt. Wieder und wieder wurde er gefoltert. Von ihm wollte der Zar hören, wer die anderen Verschwörer waren.«

Er stöhnte auf und sank ächzend in sich zusammen, bis er plötzlich auf dem Boden kniete. »Es war dein Werk – er war nicht schuldig, das weißt du! Was haben wir alles bezahlt, um meinen Neffen zu befreien – um ihm zumindest die Folter zu erleichtern! Aber nichts! Nach der Folterung brachten sie ihn halb tot zum Arzt. Der Zar ließ gut für ihn sorgen – nur um ihn wieder foltern zu können. Schließlich gelang es ihm, an ein Messer zu kommen. Damit wollte er sich im Gefängnis umbringen, aber er war so entkräftet, dass er sich nicht töten konnte. Begreifst du das? Dass ein Christenmensch sich umbringen will, dass er den Tod wählt von eigener Hand?« Er schluchzte auf.

Johannes schluckte. Ihm schauderte, als er an die Waffe dachte, die wie eine Reliquie auf dem Schrein lag. So bekam das Ganze einen Sinn, vor allem sein Wunsch, den Zaren zu vernichten. Karpakow hatte bei dem Strelizenaufstand einen Verwandten verloren. Seinen Neffen, der ihm offensichtlich viel bedeutet hatte.

»Seine Frau hat sich umgebracht, als sie von seinem Tod erfuhr«, fuhr der Alte nun fort. »Marija – wie gut sie war! Wie verzweifelt! Du hast ihr die Hand geführt. Dabei hätte sie leben können. In die Verbannung wäre sie geschickt worden mit ihrem Bruder, der noch ein Kind war.«

»Derejew?«, rutschte es Johannes heraus. Karpakows Blick war Antwort genug.

»Hast du dich an Sergejs Blut gelabt?«, fragte der alte Mann. »Und an Marijas Qualen?«

Johannes schwieg, aber er schloss seine Hand fester um die Ikone, die er instinktiv hinter seinem Rücken verborgen hielt.

»Nun?«, fragte Karpakow. »Hat es dem Teufel die Sprache verschlagen?« Hass sprühte in seinem Blick.

»Du redest genug für uns zwei«, gab Johannes düster zurück.

»Du bist gierig«, zischte der Bojar. »Du denkst, du wirst mich holen heute Nacht?« Das Grinsen, das einer verzerrten Grimasse glich, machte ihn hässlich.

»Nicht heute.«

Johannes erahnte die Bewegung und reagierte lange, bevor Karpakow mit einem Satz aufsprang. Ein gebogener Dolch blitzte auf. Johannes keuchte und warf sich zur Seite. Mit einem Krachen prallte Karpakow gegen das Bett und brüllte auf. Eine heiße Welle von Panik ließ Johannes blitzartig handeln.

Ohne sich zu besinnen schlug er mit der Ikone zu.

Der Rahmen krachte gegen Karpakows Schläfe. Wie ein Sack fiel der Wahnsinnige aufs Bett. Der Dolch, den er immer noch in der Hand hielt, bohrte sich in die prächtige Decke.

Nach Luft ringend sah Johannes auf ihn hinab.

Karpakow atmete, aber aus einer Platzwunde an seinem Kopf sickerte Blut. Stimmen ertönten, ein gellender Ruf erklang, natürlich hatte man unten Karpakows Gebrüll gehört. Jetzt hatte er keine Zeit mehr.

Er konnte nur eins tun – vielleicht hatte er Glück und Karpakow würde glauben einem trunkenen Traum erlegen zu sein. Johannes tippte an das Blut, das aus der Wunde floss, und schmierte es an einen der Bettpfosten. Für einen Diener musste es so aussehen, als wäre Karpakow in einem Wahntraum gefangen gewesen und gestolpert. Die Ikone wischte er an seinem Hosenbein ab und stellte sie an ihren Platz zurück.

»Gosudarj?«, rief eine Stimme aus dem unteren Raum nach dem Herrn. Dann ertönten schwerfällige Schritte auf der Treppe. Johannes wirbelte herum und klappte die Truhe auf. Mit bebenden Fingern öffnete er die helle Kiste und fand ein Samtsäckchen.

Eine Muschel war nicht darin, dafür aber etwas so Grässliches, dass er beinahe aufgeschrien hätte. Eine mumifizierte Affenhand war es, ledrig und verschrumpelt. Ohne nachzudenken bog er die widerspenstigen Finger ein wenig auf. Behutsam schob er seinen Zeigefinger in die Faust und ertastete etwas Glattes. Eine Tür knarrte. Johannes zerrte die Perle der Russalka aus der Affenhand. Die gefärbte falsche Perle, die er aus seinem Beutel hervorholte und gegen die richtige Perle austauschte, war kleiner als das Original. Seine Finger schienen plötzlich zu groß und ungelenk dafür zu sein. Sie entglitt ihm. Es ging schief, es ging alles schief!