»Ja.« Am liebsten hätte er dieses Wort triumphierend herausgeschrien, aber er griff nur nach Jelenas Arm und drückte den Beutel mit der Perle in ihre Hand. »Hier ist sie!«, flüsterte er. »Aber wir müssen weg – es ist mir nicht gelungen, die Perle zu vertauschen.«
»Was?«
»Sie ist mir aus der Hand gefallen. Ich kann nur hoffen, dass Karpakow nicht vor morgen in die Kiste schaut.«
»Hat Karpakow dich gesehen?«
»Viel schlimmer.« Er holte tief Luft und erzählte ihr von Karpakows Schreibtisch, von den Papieren, dem geplanten Haftbefehl – und von dem Namen Jewgenij Michailowitsch Skasarow, den Karpakow auf seiner Liste vermerkt hatte. Sie entfernte sich mit leisen Schritten. Er hörte einen Laut, der seinen ganzen Triumph wegschwemmte. Weinte sie etwa?
»Was machst du?«, fragte er.
»Wir haben die Perle«, flüsterte Jelena in weiter Ferne. Er erkannte, dass der Laut ein unterdrücktes Lachen gewesen war. »Das ist die Hauptsache. Die Russalkas werden leben.«
In diesem Augenblick klappte ein Fensterladen auf. Das Dämmerlicht der Spätnacht fiel herein und ließ Jelena wie einen Schattenriss aus einem Puppentheater aussehen. »Ich will mir die Perle anschauen«, sagte sie. »Komm her!«
Nur zu gern folgte er dieser Aufforderung und war überrascht, als Jelena ihn in der Dunkelheit umarmte.
Es war nicht länger die spröde, beinahe abweisende Umarmung von Jewgenij. »Ich danke dir«, sagte sie leise. Viel zu schnell ließ sie ihn wieder los und setzte sich unter das Fenster. Sie holte den Schatz der Russalka aus dem Beutel und reichte ihn Johannes.
Glatt wie Seide fühlte sich die Perle an. Behutsam ließ er sie in seine Handfläche rollen. Sie war perfekt. Als er sie genauer betrachtete, blieb ihm der Mund offen stehen. Das Rot leuchtete wie Lava und legte einen hellroten Lichthof auf seine Handfläche.
Das Perlmutt glänzte in allen Farben des Blutes und vermengte sich mit dem satten Ton von Abendrot.
Die Perle war schwer von Alter und Kraft, ein Geheimnis ruhte in ihr und vereinte alle Stimmen des Meeres. Johannes sah Bilder von tanzenden Körpern, die von der Strömung getragen wurden – hinaus in die Tiefen, dorthin, wo kein Licht mehr war, nur dieses Pulsieren des letzten Lichtes, rot und ewig. Johannes fühlte, wie alle Angst für einen Moment verschwand und sein Herz sich in einen Schwarm von Schmetterlingen auflöste. Er war so glücklich, als hätte er das ganze Leben lang nur für diesen Augenblick gelebt – hier mit Jelena sitzend, eng aneinander gekauert unter einem Fenster, eine Perle in seiner Hand.
* * *
Kolja sah aus, als hätte er die Nacht damit verbracht, auf die Straße zu starren. Seine Augen waren verquollen und rot, seine Laune dagegen rabenschwarz.
Dennoch versuchte er höflich zu seinen Gästen zu sein, die schon so früh auf den Beinen waren. Die Kascha schmeckte nach Lehm und Wurmmehl, aber Jelena und Johannes löffelten sie ohne eine einzige Bemerkung aus und hörten dem Gemurmel zu, das wie heißer Fettdampf durch die Stube waberte. Von einem Brand war die Rede, der nur mühsam gelöscht werden konnte, von Brandstiftern und Räubern. Die Stadtwache hatte mehrere verdächtige Gestalten verhaftet, die sich in der Nähe von Karpakows Haus herumgetrieben hatten. Die Wirtin, Koljas Frau, bekreuzigte sich mehrfach und murmelte etwas vom Teufel, und Johannes musste Jelena unter dem Tisch einen leichten Tritt gegen das Schienbein geben, weil sie sich ein Lachen nicht verkneifen konnte. Viel sagend sah sie ihn an, zog die Augenbraue hoch und nickte. »Lasst dieses Geschwätz von Teufeln nicht den Zaren hören«, brummte Kolja mit einem Blick auf Johannes. Johannes tat so, als habe er den Wink an die Frau nicht verstanden, aber er befand, dass es an der Zeit war, aufzubrechen. Hastig schlangen sie den Rest des Frühstücks hinunter und holten ihre Habseligkeiten.
Die Straßen schliefen noch, die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen und das diesige Morgenlicht breitete über die Straßen, in denen vor wenigen Stunden noch ein Aufstand getobt hatte, einen stillen Schleier.
»So früh unterwegs?«, wollte der Wächter am Stadttor wissen. Er musterte die beiden Reisenden von Kopf bis Fuß. Johannes war unbehaglich zumute, aber er beschloss sich nicht einschüchtern zu lassen. Wenige Schritt weiter war der Weg – wenn sie es bis zum Waldrand schafften, waren sie frei.
»Der Arzt des Zaren wartet nicht«, erwiderte er mit selbstbewusster Stimme. Ohne eine weitere Erklärung zückte er das Sendschreiben mit dem zarischen Wappen und dem Apothekersiegel. Es war klar, dass der Wachsoldat die Buchstaben nicht lesen konnte, aber das Wappen mit dem doppelköpfigen, gekrönten Adler beeindruckte ihn sichtlich.
»In die neue Stadt zieht ihr, ja?«, fragte er.
Johannes nickte gewichtig. »Wie Ihr hier gelesen habt, sollen wir uns ohne Verzögerung wieder zur Apotheke in der Peter-und-Paul-Festung begeben.«
Er beugte sich vertraulich vor. »Ein Oberst ist erkrankt, hier …«, er klopfte auf sein Bündel, »… sind die Zutaten aus Moskau für seine Medizin.«
Der Soldat betrachtete das Bündel, schließlich winkte er sie durch. »Dann steht nicht rum«, bellte er. »Der Zar wartet nicht!«
Erleichtert, dass er kein Bestechungsgeld gefordert hatte, nahmen sie ihn beim Wort und entfernten sich mit raschen Schritten. Johannes spürte den Blick des Soldaten im Rücken wie einen fragend tippenden Finger. »Nicht umschauen«, flüsterte Jelena ihm zu.
Hufgetrappel erklang in der Ferne. Wie schon unzählige Male an diesem Morgen griff Johannes nach dem Beutel, der wieder an seinem Gürtel hing, und vergewisserte sich, dass die Perle noch da war. Die Reiter auf dem Weg wurden größer, vor dem morgenhellen Himmel erhoben sich ihre Silhouetten.
Etwas an diesem Bild störte Johannes und auch Jelena ging plötzlich langsamer, bis sie schließlich stehen blieb. »Soldaten?«, murmelte sie.
Ein angstvolles Klopfen machte sich in Johannes’ Brust bemerkbar. Jetzt erkannte er auch die Uniformen. Vier Dragoner mit Gewehren waren es und zwei Grenadiere in blauen Uniformröcken. Sie galoppierten auf die Stadt zu, als hätten sie einen wichtigen Auftrag.
»Warum habe ich das Gefühl, dass wir laufen sollten?«, murmelte Jelena.
»Weil du Recht hast«, erwiderte Johannes. Im nächsten Moment sprangen sie vom Weg ab, duckten sich und flohen hinter ein paar armselige Büsche. Im Morgenlicht wirkten die Gesichter der Soldaten wächsern. Zwei davon kannte Johannes nur zu gut.
»Derejews Leute«, flüsterte er. Jelena wurde blass.
»Suchen sie uns?«
»Wenn nicht, dann werden sie es bald tun«, antwortete Johannes. »Sie werden zu Karpakow reiten.
Wahrscheinlich sind sie seine Eskorte nach Sankt Petersburg.«
Jelena nickte unmerklich. »Mit den Pferden sind sie uns einen Tag voraus, wenn nicht sogar mehr.«
Die Reiter wurden kleiner und verloren sich vor der Stadt. »Wir könnten Glück haben«, meinte Johannes. »Wenn Karpakow nicht entdeckt, dass die Perle fehlt, haben wir eine Chance. Wir dürfen nur keine Zeit verlieren.«
Iwan
Der Weg zurück erwies sich als hundertfach schwieriger als der Hinweg. Nach kurzer Zeit setzte ein Nieselregen ein, der den Boden aufweichte und sie trotz der Sommerluft frieren ließ. Die wenigen Stunden, die sie sich als Rast gönnten, vergingen in hastigem Dämmerschlaf, begleitet von seltsamen, dumpfen Träumen, in denen Johannes sich von Wasser umgeben sah. Schlammig war es und so zäh, dass es jede Bewegung erstickte. Bilder von Gesichtern huschten an ihm vorbei, aber sie waren gespenstisch und nicht greifbar, auch wenn er die Züge von Michael und Marfa zu erkennen glaubte. Die Zukunft schnappte zu wie eine Falle und hielt ihn atemlos und verzweifelt fest. Wenn er erwachte und ihm das Regenwasser aus den Haaren lief, war der einzige Trost, den er verspürte, Jelenas Gegenwart. Ohne ein Wort suchten sie in der Dunkelheit die Nähe des anderen und drängten sich aneinander wie Katzen. In diesen Stunden sprachen sie nicht, aber Johannes lernte eine neue Jelena kennen, ein Mädchen, dessen Hände er in den seinen wärmte und das nicht so barsch und abweisend war wie Jewgenij. Schritt für Schritt schien sie in seiner Gegenwart die Maske von Jewgenij abzulegen. Zurück blieb ein sehr trauriges Mädchen, das nicht ja und nicht nein sagte. Kälte und Fieber krochen ihnen in die Glieder. Feuer wagten sie nicht zu machen – ohnehin war das Holz so nass, dass sie damit nur einen weit in den Himmel reichenden Wegweiser für Derejews Leute gesetzt hätten.