Oft war Johannes sich nicht mehr sicher, ob sie sich auf dem richtigen Weg befanden, aber schließlich wurde der Wald karger. Der Wind blies stärker und immer häufiger aus dem Südwesten. Manchmal glaubte Johannes bereits die Brise von Salz zu ahnen, aber es musste eine Täuschung sein. In diesen Tagen dachte Johannes oft darüber nach, wie unendlich groß das Zarenreich war. Und wie klein er selbst, der wie eine Ameise versuchte in die Nähe der Newa zu gelangen. Jeder Schritt schien sie in den schlammigen Grund hineinzusaugen und der Wind blies ihnen so stark entgegen, dass Johannes das Gefühl hatte, er wollte sie von ihrem Ziel fern halten. Die Sorge um Michael und Marfa begann an ihm zu nagen und er fragte sich, ob er Derejew nicht unterschätzt hatte.
Immer wieder sah er die Namen vor sich, die Karpakow aufgeschrieben hatte. Was für ein Plan! Einen Deutschen als Mörder zu präsentieren. Jelena schien nicht müde zu werden. Sie war zäh wie ein Maultier, musste er zugeben. Obwohl er viel größere Schritte machte, war sie oft schneller als er.
Johannes wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs waren – einen Tag, zwei oder vielleicht auch schon hundert –, als er hinter sich das Echo eines Rufs vernahm. Noch war es Nacht. Der Wind trug Hufschlag mit sich. Johannes und Jelena sahen sich an. Panik ließ sie erstarren. Derejews Leute? Mitten im Wald? Im nächsten Augenblick war wieder alles still. Nur zu gern wollte Johannes glauben, dass ihre Ohren ihnen einen Streich gespielt hatten, aber im nächsten Moment wussten sie es beide: Jemand folgte ihnen. Es war kein Geräusch, das sich ausmachen ließ, eher eine Ahnung, dass stets ein Schritt verebbte, sobald sie innehielten. Stumm gab Johannes Jelena ein Zeichen. Sie nickte kaum merklich. Unauffällig gingen sie einen Bogen, liefen immer weiter auseinander, bis sie die Richtung der Geräusche ausmachen konnten, dann trat Johannes fester auf und lenkte den Verfolger mit dem Lärm seiner Schritte ab, während Jelena sich auf einen Baum schwang – lautlos und so rasch, dass sie aussah wie ein seltsamer Affe.
Im nächsten Moment hörte Johannes ein Knacken und fuhr herum. Ein Schatten huschte durch das Unterholz. Mit wenigen Sätzen war Johannes bei ihm.
Es behagte ihm nicht, einen Wächter niederschlagen zu müssen, aber einen Verräter konnten sie nun am allerwenigsten brauchen. Jelena sprang. Der Mann gab ein entsetztes Grunzen von sich. Eine Faust traf Johannes’ Kinn mit solcher Wucht, dass er taumelte.
Durch einen schmerzroten Schleier sah er, wie Jelena auf dem Rücken eines Soldaten landete und ihm den Kopf zurückbog. Johannes sprang auf und holte aus.
Seine Faust traf den Mann mitten in die Magengrube und presste ein Keuchen aus dem gekrümmten Körper. Noch während Johannes das zweite Mal ausholte, hatte sein Kopf begriffen, wen er vor sich hatte.
Der zerschlissene Uniformrock rutschte über eine bloße Schulter.
»Mitja!«
Der Gottesnarr schwankte wie ein verwundetes Pferd unter seinem Reiter, strauchelte und ging zu Boden. Jelena sprang von seinem Rücken. »Mitja – o Himmel, wir haben Mitja verletzt!«
Johannes stürzte zu dem Narren und drehte ihn behutsam um. Mitja hielt sich den Bauch und rang nach Atem. »Er ist nicht verletzt«, versuchte Johannes sich selbst und Jelena zu beruhigen. »Mitja, ruhig bleiben. Atmen, hörst du?«
Mitjas Gesicht war krebsrot, die Augen quollen hervor, aber nach und nach schöpfte er stockend wieder Luft. Erleichtert beobachteten sie, wie der Gottesnarr sich auf die Seite wälzte und aufsetzte.
Sein Blick irrte zu seinen Händen, die schlammverschmiert waren. »Derejew!«, stöhnte er.
Jelenas Körper spannte sich. »Wo?«, flüsterte sie und sah sich um.
Mitja machte eine verschlungene Geste, die Johannes nicht verstand, kam taumelnd auf die Beine und floh.
»Wir sollen ihm folgen«, raunte Jelena Johannes zu.
So leise wie möglich rannten sie durch das Unterholz. Johannes staunte über Mitja, der plötzlich zu einem Schatten wurde. Alle Plumpheit war aus seinem Körper gewichen. Johannes erinnerte sich an die Worte der Russalka. Mitja liebte den Wald. Bei einem Baum blieb er stehen und bog einige Ranken und Klettergewächse zur Seite. Ein Loch erschien – der Baum war hohl! Ein Ruf ertönte, nun war auch der Hufschlag ganz deutlich zu hören. Flinker als ein Fuchs verschwand Jelena im hohlen Stamm, Johannes sah in die weit aufgerissenen schlammgrünen Augen des Gottesnarren und folgte ihr. Mitja schob Johannes in den Stamm, dann ließ er die Ranken über die Höhle fallen und rannte wie der Teufel davon. Sie klammerten sich so eng aneinander, dass sie den rasenden Herzschlag des anderen spüren konnten. Im Baum roch es nach faulendem Holz.
»Ich habe sie gehört!«, rief eine kehlige Stimme.
Erschreckend nah schnaubte ein Pferd.
»Verdammt, sie können nicht weit sein! Es sei denn, sie sind auf die Hauptstraße ausgewichen.«
Mitjas Stimme ertönte. Er sang.
»He, Mitja!«, sagte die erste Stimme freundlich.
Natürlich, es waren Grenadiere – Mitja brachte ihnen Glück. »Gib es zu – du hast sie dir geschnappt!«
»Immer und niemals«, antwortete Mitja.
»Na, dann zeig uns mal, wo du die zwei versteckt hast!«
Die zweite Stimme lachte.
»Im Baum stecken sie«, sagte Mitja ernsthaft.
»Die Arme hängen ihnen aus dem Maul – und aus den Augen fließt der Fluss.«
Die erste Stimme lachte. »Danke, Mitja. Eine große Hilfe bist du.« Und barscher fügte der Soldat hinzu: »He, Dima – zur Hauptstraße, los! Die haben uns gerochen, ich sag’s dir doch!«
Hufschlag verklang. Johannes spürte Schmerz an seinen Armen und begriff erst langsam, dass er von Jelenas Händen rührte, die ihn immer noch umklammerten. Die Ranken raschelten, dann erschien Mitjas besorgtes Gesicht. Ohne ein Wort packte er Jelena und zerrte sie aus dem Stamm. Auch Johannes, der mit seinen langen Beinen nicht mit einem Satz aus dem Stamm herauskam, half er.
»Glück gehabt«, sagte Jelena und strahlte den Narren an. »Danke, Mitja!«
Der Narr brummte, drehte sich um und lief voraus.
Endlich kamen die ersten abgeholzten Bäume in Sicht, frische Spuren von Hufen und Zugwerken fanden sich zwischen den Bäumen. Sie hatten den äußersten Ring erreicht, bis zu dem die Arbeiten für die Stadt vorangeschritten waren. Aus weiter Ferne trug der Wind ein paar Rufe zu ihnen herüber. Mit zittrigen Beinen blieben sie stehen, schwach und ausgezehrt nach den Tagen dieser nassen Wanderung. Die tiefe Rille vor ihnen, die ein Baumstamm, der über den Waldboden geschleift worden war, in den Boden gegraben hatte, war mit Wasser gefüllt. In Sankt Petersburg würden einige der Behausungen, die auf Meereshöhe lagen, vom Regen bereits überschwemmt sein.
»Dort geht es zum Fluss«, erklärte Jelena und deutete nach Norden. »In einer Stunde können wir dort sein.«
»Wenn nicht Derejews Leute schon warten.«
Sie zögerten. Nach einer langen Pause räusperte sich Jelena. »Gut. Wir haben Angst. Na und? Wir können von südöstlicher Richtung zum Fluss gehen – weitab von der Stadt, newaaufwärts. Ich werde dort die Russalka rufen.«