Leben für Leben
Der Sturmwind fegte vom Südwesten heran und zauste das Wasser. Die Newa hatte sich in einen kochenden See verwandelt. Lastkähne hatten sich losgerissen und trudelten umher. Irgendwo auf der anderen Seite der Newa stand der Zar in seinem hölzernen Domik sicher bis zu den Knien im Wasser. Und er ahnte nicht, dass die Newa nur darauf wartete, ihn endgültig zu verschlingen. Sie wartete auf den letzten Befehl von Karpakow. Angespannt hielt Johannes Ausschau. Treibendes Holz stieß gegen seine Kniekehlen und riss ihn beinahe um. Niemand kümmerte sich um den übel zugerichteten jungen Mann.
Schreiende Menschen stürzten an ihm vorbei und stießen sich gegenseitig weg, um die rettenden Dächer zu erreichen.
Aber es gab auch Menschen, die nicht in Panik waren. Mit einem Schaudern wurde Johannes klar, dass sie auf diesen Tag gewartet hatten. Hier sah er es – das Wasser der Newa teilte die Menge in Verräter und Ahnungslose. Fassungslos beobachtete er, wie Soldaten ihre Pferde wendeten und durch hoch aufspritzende Wellen zur Newa galoppierten. Aufseher, Grenadiere und Dragoner suchten grimmig ihren Weg. Er würde mit den Verrätern laufen – selbst auf die Gefahr hin, erkannt zu werden. Das war allerdings nicht sehr wahrscheinlich. Vermutlich hätte er sich im Moment selbst nicht wiedererkannt. So vorsichtig wie möglich entledigte er sich seines verkrusteten Hemds und watete gegen den Strom derer, die kopflos vor dem Wasser flohen, weg vom Fluss, in Richtung der Wälder, die ihnen Schutz bieten würden. Nach einer halben Meile bekam er vor Anstrengung kaum noch Luft, aber er wusste nun, wohin der Weg ihn führte: Nicht zu der Weide weit östlich außerhalb der Stadt, nein, er führte an das Südufer – gegenüber der Haseninsel. Regen schlug ihm ins Gesicht und sein linkes Ohr war taub vom stürmischen Wind, der den Fluss beinahe zum Stillstand brachte.
Die Newa war ein bedrohlicher, beinahe schwarzer grundloser Schlund, der danach gierte, die Stadt zu verschlingen. Nur an den Hausdächern konnte man noch erahnen, wo Land und wo Fluss war.
Schon von weitem erkannte Johannes Karpakow.
Sein langer Mantel berührte die Fluten nicht, der Bojar stand auf einem hölzernen Podest, das in den vergangenen Tagen errichtet worden sein musste. Es war ein Lastkran mit mehreren Flaschenzügen, die üblicherweise von den Schauerleuten bedient wurden. Wie hölzerne Inseln lagen mehrere Kähne um das Podest herum vertäut. Fluchtinseln, wurde Johannes klar. Die kleinen Archen für die Erwählten, die die Zerstörung der Stadt überleben wollten. Er kämpfte sich immer weiter durch das Wasser, bis er stolperte und mit einem Mal beinahe in die Fluten gerissen wurde. Angestrengt hielt er Ausschau, aber es zeigte sich keine Russalka. Dafür erblickte er Derejew. Angst presste mit ihrer kalten Hand seine Kehle zusammen. Jelena – da war sie, an die Kette gelegt wie ein Tier. Karpakow hat die Perle tatsächlich, wurde Johannes klar. Der Wind drehte sich und trug die Fetzen der Worte zu ihm herüber.
»Rufe sie!«, schrie Derejew Jelena an. Johannes konnte sehen, wie Jelena die Zähne zusammenbiss und trotzig den Kopf schüttelte. Sie war bleich wie die Russalka, aber Johannes konnte die Wut in ihren Augen sehen. In diesem Augenblick war er unendlich stolz auf sie. Karpakow hatte sich die Falsche ausgesucht. Derejew holte aus und schlug Jelena ins Gesicht.
»Lass sie!«, brüllte Johannes. Ein Soldat wandte sich um, entdeckte ihn und hob sein Gewehr und legte an. Der Schuss peitschte durch die Luft. Johannes warf sich ins Wasser, tauchte unter und fühlte, wie die Strömung ihn fortzog. Als er wieder auftauchte, beobachtete er, wie der Soldat sich suchend umsah und dann wohl beschloss, dass er sein Opfer getroffen hatte. Johannes schnappte nach Luft und versuchte sich wieder einen Überblick zu verschaffen. Was auch geschah, er musste Jelena befreien. Etwas lief nicht so, wie Derejew und Karpakow es geplant hatten. Keine Russalka ließ sich blicken. Noch ein Stück ließ Johannes sich mitziehen, dann war er mitten in einer Menschenmenge, die sich um das Podest scharte. Als er hochblickte, sah er, wie Derejew Jelena zu Karpakow stieß. Ein Messer blitzte auf, und ehe Johannes das Podest erreicht hatte, zuckte es herab. Jelena schrie.
»Ruf sie«, rief Karpakow. Seine Stimme war heiser und laut wie ein Donnergrollen, er zwang Jelena in die Knie und hielt ihre Hände über das Wasser.
Nun sah Johannes die Stichwunde in ihrem Arm. Im ersten Augenblick war da nur Erleichterung und er verdoppelte seine Anstrengungen, näher zum Podest zu kommen. Der Wind trug Jelenas Blut auf das Wasser hinaus. Johannes glaubte einen klingenden Ton zu hören, als die roten Tropfen auf dem Wasser auftrafen. Die Menge verstummte. Der Himmel erstarrte zu einem bedrohlichen Ölbild, selbst der Wind hielt den Atem an. Jetzt begann von einem Augenblick auf den anderen das Wasser zu schäumen. Erst vereinzelt, dann an immer mehr Stellen brodelte es, ein Zischen und Fauchen erklang, Aalschwänze peitschten das Wasser. Die Newa schien sich von unten nach oben zu kehren. Wie alle anderen duckte sich Johannes vor dem Sprühregen, der auf ihn niederging.
Sie erblühten wie Seeblumen. Unter Wasser waren sie erst helle Flecken, kaum sichtbar im schwarzen Spiegel, dann wurden sie deutlicher. Augen und Kiemen, uralte strenge Gesichter, wie schlafend unter einer Decke aus flüssigem, dunklem Glas. Eines nach dem anderen durchbrachen die Gesichter die Wasseroberfläche. Die Menschen, die bis zu den O-berschenkeln im Wasser standen, stöhnten auf und wichen zurück. Einige Soldaten schlossen ihre Fäuste um die Griffe ihrer Hellebarden. Andere begannen sich zu bekreuzigen.
Manche der Wassergeschöpfe waren so alt wie die ältesten Mooreichen auf dem Grund der Sümpfe.
Schuppen und knöchrige Höcker glänzten im fahlen Schein des Sturmhimmels. Verletzt und wütend waren sie, aber doch hoffnungsvoll – einen Schritt von der Ewigkeit entfernt, schwebend zwischen Tod und Leben, eine Armee von Wesen, so unberechenbar und gefährlich wie das Meer. Angst bemächtigte sich Johannes’ – die uralte Angst, gejagt und verschlungen zu werden. Krampfhaft versuchte er seine Russalka zu entdecken. Dort war sie – menschlicher als ihre Gefährten, aber alles Weiche, Liebliche war aus ihrem Gesicht verschwunden. Pferde scheuten, klagend wichen Karpakows Verbündete zurück.
»Flieht!«, schrie Jelena den Russalkas zu. »Flieht!
Er hat die Perle nicht! Er hat sie ni …!« Ihr Schrei riss ab, stattdessen ertönte ein dumpfer Schlag. Karpakows Faust war Eisen, das Jelena niederschlug.
Das Mädchen stöhnte und sackte auf die Knie. Johannes stürzte sich in die Fluten. Karpakow setzte den Fuß auf Jelenas Hüfte und stieß sie ins Wasser.
Unendlich erschien Johannes der Augenblick. Er sah, wie sie sich in der Luft überschlug, glaubte jeden einzelnen Wassertropfen zu erkennen, bis das gierige Maul der Newa sie verschlang. »Russalka!«, brüllte er, aber der Wind schlug ihm seine eigenen Worte ins Gesicht. Wellen schwappten ihm in Nase und Mund. Er pflügte durch das Wasser, verschluckte sich und schwamm weiter, besessen davon, die Stelle, an der Jelena versunken war, nicht aus den Augen zu verlieren. Etwas Schnelles, Heißes zischte an seinem Ohr vorbei. »Russalka!«, schrie er verzweifelt.
Das Gesicht seiner Nixe wandte sich ihm zu. Sie schien aus einem Traum zu erwachen. »Jelena!«, rief er. »Hol sie an die Luft!«
Die Nixe sah ihn an, zu seiner Erleichterung schien sie ihn zu verstehen. Sie fauchte ihn an und tauchte ab. Wenige Augenblicke später sah Johannes, wie sie ein Stück stromabwärts wieder auftauchte – Jelena in den Armen. Bleich lag das Gesicht der Bewusstlosen an ihrer weißen Schulter. Mühsam suchte Johannes Grund mit den Füßen. »Bring sie zu mir«, rief er. Aber die Nixe hörte nicht – sie blickte an ihm vorbei, trauriges Erstaunen in ihrem Gesicht, das plötzlich wieder so menschlich und schön war wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Jähes Erschrecken ließ Johannes herumfahren. Japsend beobachtete er, wie Karpakow sich dem Ufer zuwandte. Dort stand Derejew -und neben ihm eine hagere Gestalt in einem flatternden Grenadiersrock.