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Er hatte gedacht, dass nichts ihn überraschen könnte. Nun, wie gründlich hatte er sich geirrt! Er trieb auf einem großen Stück Treibholz – es mochte der Unterbau eines Lastkahns gewesen sein. Seine Beine hingen halb im Wasser, das ungewöhnlich kalt war. Der Horizont erstreckte sich vor ihm wie ein silbernes Tuch, rechts von ihm trieben Sandbänke vorbei. Er musste weit hinter Fürst Menschikows Insel sein, vor sich den Finnischen Meerbusen, rechts, in Sichtweite, die Festung Kronstadt im Meer. Da war keine Flutwelle mehr. Er sah nur silberne Ruhe und die Klarheit eines diamantenen Himmels nach dem Sturm. Sankt Petersburg war verschwunden, aber im Moment war es Johannes auf seltsame Weise gleichgültig. Jeder Wellenschlag brachte ihm die Erinnerung an ein schmales blasses Gesicht, das ihm unwiderruflich und für immer entglitten war. Er hätte jede Stadt der Welt eingetauscht, um noch einmal Jelenas Stimme zu hören.

»Ein Leben für ein Leben«, sagte eine leise Stimme neben ihm. Wieder blinzelte er und erkannte eine Gestalt vor dem Horizont. Weiße Arme lagen auf dem Treibholz, ein Mädchengesicht sah ihn an. Die Augen schimmerten wie schwarzen Perlen.

»Was?«, flüsterte er, denn seine Stimme war unwillig und schabte in seiner Kehle wie ein Hobel über sandiges Holz. Er räusperte sich.

Die Russalka lächelte. »Wir haben das Versprechen erfüllt«, erklärte sie und bettete das Kinn auf die perfekten Hände. Ihre Fingernägel schimmerten.

»Ja«, erwiderte Johannes bitter. »Ihr habt getötet auf Karpakows Geheiß – und ihn selbst habt ihr gerettet.«

Ihr Lächeln wurde noch feiner. »Du verstehst nicht«, meinte sie nachsichtig. »Ein Leben nehmen oder ein Leben geben, so lautete der Pakt. Er wollte, dass wir Leben nehmen, das Leben des Zaren – aber wir retteten stattdessen seines. So war das Versprechen erfüllt.«

Nur langsam sickerten ihre Worte in sein Bewusstsein. »Wenn ich ihn nicht hätte töten wollen, hättet ihr seinem Befehl folgen müssen?«

Sie nickte.

»Ihr musstet ihm das Leben retten – und der Befehl?«

»Die Wasser haben wir zurückgeschickt.«

»Aber die Stadt …«

»Sie steht.« Sie verzog den Mund und Johannes wurde mit grimmiger Trauer bewusst, dass auch die Russalka einen Verlust erlitten hatte.

»Nur der Narr und Jelena werden Sankt Petersburg nicht mehr sehen«, flüsterte er. Er hatte nicht geahnt, dass selbst die Nennung eines Namens mehr schmerzen konnte als ein Fausthieb. Aber es würde viel geben, was er lernen musste. Atmen zum Beispiel.

»Nun, Mitjas Wunsch ist erfüllt«, sagte er.

Die Russalka strich sich ihr smaragdschwarzes Haar aus der Stirn, eine Geste der Verlegenheit und der Trauer. »Vielleicht. Wünschen ist so einfach für euch – mit dem erfüllten Wunsch zu leben dagegen so schwer.«

»Nicht im Tod«, erwiderte er.

»Ja«, wisperte sie. »Seine Seele ist nun Teil des Meeres. Ich höre ihn lachen.«

Das Bild vor seinen Augen verschwamm. Johannes brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er weinte. Auf seinem vom Wind gekühlten, nassen Gesicht brannten die Tränen wie heißes Wasser.

Die Russalka sah ihn entsetzt an. »Was ist?«, rief sie. »Warum weinst du?«

»Warum?«, brachte er hervor. »Warum wohl, du Bestie! Jelena – erinnerst du dich an sie? Wie konntest du sie im Stich lassen? Hörst du sie? Hörst du sie auch lachen?«

»Im Augenblick nicht«, antwortete die Nixe. »Aber vielleicht ändert sich das, sobald sie aufwacht.«

Beim Blick in sein verblüfftes, zorniges Gesicht musste sie kichern. Das Holz schlingerte, als Johannes sein Gewicht verlagerte und sich umwandte. Etwas, das die ganze Zeit hinter ihm gelegen hatte, kam ins Rutschen. Er konnte gerade noch danach greifen. Bevor der Körper, der am Rande des Treibguts gelegen hatte, in die Fluten driftete, gelang es ihm, ein Handgelenk zu fassen. Sein Mund war mit einem Mal trocken wie ein Sack voll Sägemehl. Vorsichtig zog er an dem Unterarm, den er nie wieder losgelassen hätte – für alle Schätze der Welt nicht.

Schwach nur spürte er unter seinen Fingern einen Pulsschlag. Sie lebte! Es gelang ihm, Jelena behutsam wieder auf das Holz zu ziehen. Eine glitzernde Kaskade wie von einem Springbrunnen rieselte auf das Boot herunter. Übermütig hatte die Russalka sich im Wasser herumgeworfen. Johannes nahm Jelena in die Arme und drückte sie an sich.

»Ich habe ihr etwas geschenkt«, sagte die Russalka. »Einen Kuss – genug Atem, um das Herz schlagen zu lassen, bis ich sie vom Grund holen konnte.«

»Warum hast du mich nicht geküsst, als du mich durch den Fluss getragen hast?«

»Du verschenkst deine Küsse vielleicht wahllos – ich nicht.«

In diesem Moment verkrampfte sich der Körper in seinen Armen. Jelena würgte, ihre Lider flatterten.

Mühsam schlug sie die Augen auf und sah Johannes an, als würde sie ihn nicht erkennen. Widerwillig ließ er es zu, dass sie sich aus seiner Umarmung wand.

Auf Knie und Hände gekauert hustete sie, bis er schon befürchtete, sie würde nun, da sie nicht ertrunken war, stattdessen ersticken.

Hinter der Russalka erschien ein Gesicht, dann ein weiteres, Strudel bildeten sich, als nach und nach die Russalkas auftauchten und das zertrümmerte Boot umkreisten. Jelena schlug die Hände vor den Mund und betrachtete die Wesen, als würde sie sie zum allerersten Mal sehen. Bei der Russalka, ihrer Russalka, verharrte sie.

»Ich danke dir«, sagte die Nixe mit ihrer Flussstimme.

Die Sonne kam hervor und ließ sie leuchten. Ein letztes Lächeln schwebte über dem Wasser, dann tauchten die Gesichter unter. Eine Russalka nach der anderen verabschiedete sich stumm von ihrer Hüterin. Schließlich hob auch Jelenas Russalka die Hand.

Jelena zitterte, als sie den Abschiedsgruß erwiderte.

Das Letzte, was Jelena und Johannes von den Newanixen sahen, war ein Glitzern unter der Wasseroberfläche, das in der Tiefe erlosch wie ein Kerzenlicht.

Zurück blieb die wasserdunkle Ewigkeit.

* * *

Jelena weinte lange und Johannes, der nicht wusste, was er ihr hätte sagen können, hielt sie einfach nur fest und ließ sich von ihrer Trauer über den Verlust ihres Lebens, ihrer Nixen, ihres Daseins durchdringen. Er stellte sich vor, wie die Nixen durch das Wasser trieben, mit dem Schatz in den Händen, der leuchtenden roten Perle, die sie wie ein Weglicht zum Herzen der See führte. Und er sah Mitja vor sich, den Narren, der dort angelangt war, wo er immer hatte sein wollen. Als Strandgut am Ufer zurückgeblieben war Jelena. Nach einer Weile befreite sie sich sanft aus seiner Umarmung. Stumm einigten sie sich darauf, zurückzukehren. Zurück in die Stadt, in der die Lebenden darauf warteten, dass die Sturmflut sich endgültig zurückzog. Holz, das vorbeitrieb, nahmen sie als Paddel und wendeten ihr provisorisches Boot. Schweigend ruderten sie, den Westwind im Rücken, während die Sonne höher und höher stieg.

Links von ihnen ragte die Festung Kronstadt aus dem Meer. Wahrscheinlich beobachteten die Soldaten durch ein Fernrohr die zwei Schiffbrüchigen, die tapfer weiterpaddelten. Nach und nach kamen Schiffe in Sicht, dann die ersten Häuser. An den Ufern ging das Wasser langsam zurück. Menschen saßen auf Bäumen, zerbrochenes Treibgut säumte die Newa wie ein bizarres Halsband.

»Es tut mir Leid«, sagte Johannes nach einer Weile.

Jelena sah ihn an und lächelte. Der Horizont, eine spiegelnde Scheibe, glitt hinter ihr vorbei. »Warum?

Seit ich geboren wurde, habe ich geahnt, dass ich sie eines Tages verlieren würde. Sie werden leben – nur das zählt.«

Ihr Lächeln ermutigte ihn und unter dem Schatten, der immer noch über ihm schwebte, dem Schatten des Todes, der sie ihm beinahe weggenommen hätte, schwor er sich, nie wieder Zeit zu verschwenden.

»Mich hast du nicht verloren«, sagte er. »Ich … werde Schiffe bauen. Wir können über das Meer fahren.