Wir sind frei – du und ich.«
Das Lächeln verschwand, ihre braunen Augen leuchteten in der Sonne wie dunkler Bernstein. Sie schwieg und er fühlte sich wie ein Mann, der einen Ertrinkenden retten möchte und verzweifelt versucht das Seil nicht loszulassen.
»Hast du nie davon geträumt, über das Meer zu fahren?«, fragte er zaghaft.
»O doch«, antwortete sie. »Seit Ewigkeiten träume ich davon. Aber …« – die alte Ironie schlich sich wieder in ihre Worte – »… bringen Frauen auf den Schiffen nicht Unglück?«
»Auf unserem nicht«, sagte er mit fester Stimme.
»Wir können segeln bis nach Kopenhagen, nach Hamburg oder über das Adriatische Meer nach Venedig.«
»In die Nähe der Russalkas?«, fragte sie leise.
»Wir werden ihre Träume stören«, erwiderte er und lachte.
Ihr Lächeln war fadenfein und zerbrechlich wie ein Glasgespinst. Er machte den Fehler und zerschlug es mit seiner Stimme. »Also kommst du mit mir?«
Zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf.
Er machte einen weiteren Fehler. »Warum?«, rief er.
»Was ist los? Liegt dir überhaupt nichts an mir?
Wenn es das ist, dann sage es!«
»Hör auf«, fuhr sie ihm scharf dazwischen. »Verstehst du denn nicht? Du kehrst zurück in dein Leben. Ich dagegen habe mein Leben soeben verloren.
Ich war eine Muschel, die eine Perle hütete – nun ist von mir nur noch eine Schale übrig.«
»Aber wir …«
»Lass es!«, schrie sie ihn an. »Du verstehst es nicht.« Die Endgültigkeit ihrer Worte nahm ihm jeden Mut. Hilflos starrte er sie an. »Lass es, Brehmow«, sagte sie leiser.
»Johannes heiße ich«, antwortete er. Es klang kläglich. Jelena blickte mit ausdruckslosem Gesicht dem Ufer entgegen, das Paddelschlag für Paddelschlag näher auf sie zuglitt.
Die dritte Prüfung
Es waren viele Tage, die das Fieber ihm stahl. Die Wunde, die Derejew ihm mit der Pistole beigebracht hatte, und einige Verletzungen, die er durch die Prügel erlitten hatte, entzündeten sich. Nachdem er Iwan gefunden und mit ihm die Werkstatt wieder in Ordnung gebracht hatte, erinnerte Johannes sich nur noch an eine lange Nacht, in der ihm die Wirklichkeit entglitt, und an eine morgendliche Fahrt über eine tote, leere Newa. Das Nächste, was er wahrnahm, war die Gewissheit, dass er Thomas Rosentrost voller Inbrunst hasste, denn der Arzt verschlimmerte die Schmerzen um ein Vielfaches, indem er an den Wunden herumschabte. Die Apotheke und der Nebentrakt, in dem ansonsten die Vorräte lagerten, waren zu einer Krankenstation umgebaut worden. Es gab zahlreiche Verletzte, die von Trümmern umgerissen worden oder von den Bäumen gestürzt waren, auf denen sie Zuflucht gesucht hatten.
Und einige andere Leute mit Schussverletzungen waren auch dort. Wenn die Sonne schräg durch die Fenster fiel, konnte Johannes beobachten, wie sich das Licht in den Glasflaschen mit den Monstren fing.
Gespräche trieben aus dem Hauptraum zu ihm herüber. Einmal glaubte er die herrische, dröhnende Stimme des Zaren wahrzunehmen, dem Thomas Rosentrost streng, aber nicht unhöflich antwortete. Es gab laute Verhöre und geflüsterte Fragen und einmal, im Fieber, hörte Johannes sogar Marfas Stimme. Er lächelte und griff nach der Hand, die über seine Stirn strich. Das Seltsamste in dieser Zeit waren die Träume. Er sah sich in einen blauen Grenadiersrock gekleidet unter der Wasseroberfläche dahintreiben.
Sonnenlicht zersplitterte über ihm, sein Herz schlug nicht, was ihm die Mühe des Atmens ersparte.
Er war glücklich, aber gleichzeitig schmerzte ein jäher Verlust. Die Russalka wiegte ihn in ihren Armen, bis er einschlief.
Erst Thomas Rosentrosts Stimme holte ihn an Land zurück. »Sie haben die Briefe gefunden!«
Johannes, der sich noch unter Wasser befand, öffnete die Augen. Rosentrosts Gesicht waberte im Raum. »Briefe?«, fragte er.
Der Arzt nickte. Seine Perücke kräuselte sich in neuer Pracht, aber sein graues Gesicht sah aus, als hätte er einige Nächte nicht geschlafen. »Die Briefe, die Karpakow und Derejew gewechselt haben. Derejew war sich seiner Sache offensichtlich so sicher, dass er es nicht für nötig befand, sie zu vernichten.
Und die vermeintlichen Verwandten von Natascha Neglowna haben sich daraufhin plötzlich daran erinnert, dass sie für ihre Aussage gegen die Familie Brehm fürstlich bezahlt werden sollten.«
»Das heißt, Onkel Michael …«
»Frei wie ein Fisch«, sagte Rosentrost und achtete nicht darauf, dass Johannes bei seinen Worten zusammenzuckte. »Gestern sind sie wieder in ihr Haus zurückgekehrt.« Er machte eine Pause. »Es tut mir Leid, dass dein Freund ertrunken ist.«
Johannes runzelte die Stirn und versuchte sich krampfhaft zu erinnern, wen Rosentrost meinen könnte, bis ihm einfiel, dass nur er und Marfa von Jelena wussten. »Ja«, sagte er. »Was … geschieht mit Derejew? Und Karpakow?«
»Derejew? Nun, er ist der Mörder des Gottesnarren -ein Mann darf sich einiges leisten im Zarenreich, aber dafür hat einer der Grenadiere ihn getötet. Offiziell hat ihn ein fehlgegangener Schuss getroffen.
Seinen Körper hat man bei der Festung Kronstadt aus dem Wasser gezogen. Und Karpakow ist im Verlies.«
Johannes schauderte, als er an den wahnsinnigen alten Mann dachte, und er hatte Mitleid mit ihm.
»Wie auch immer«, sagte Rosentrost. »Du bist in Sicherheit und die deinen auch. Dafür solltest du dem Himmel danken.«
Johannes war immer noch nicht zufrieden. »Was ist mit den Nixen? Was sagt der Zar dazu?« Der Arzt sog die Luft durch die Zähne ein und blickte an ihm vorbei zum Fenster. »Du musst sie gesehen haben, Thomas«, bohrte Johannes weiter. »Sie waren da!
Die Menschen standen auf den Festungswällen und haben auf die Newa geschaut. Selbst der Zar muss die Russalkas gesehen haben.«
»Nun«, meinte der Arzt langsam. »Ich sollte das nicht sagen, was ich nun sage. Und du vergisst es gleich wieder.« Er beugte sich vor, damit niemand im Nebenzimmer seine Worte verstehen konnte. Im Nachmittagslicht wirkte sein strenges Gesicht wie aus Zedernholz geschnitzt. Aber Thomas, der Ungläubige, lächelte. »Über die Nixen redet niemand mehr. Am allerwenigsten der Zar. Eine Gruppe von Verschwörern habe zu viel gewagt, so heißt es. Und die Flut hat den Aufstand verhindert. Zeugen haben gestanden von Karpakow bestochen worden zu sein.
Das ist die Version, die du dir einprägen solltest.
Was du allerdings denkst und was du glaubst gesehen zu haben, das ist deine Entscheidung.« Er zwinkerte Johannes zu. »Mag sein, dass auch ich etwas in den Fluten gesehen habe. Möglicherweise konnte ich einige Nächte nicht schlafen und hatte das Gefühl, mein alter Verstand bocke wie ein trotziges Pferd, das sich weigert die Vernunft als seinen Herrn anzuerkennen. Mag sein, dass auch der Zar die Russalkas gesehen hat, aber darauf kommt es nicht an. Peter wird keine Affäre daraus machen, glaube mir. Denke immer daran: Der Zar ist ein zweischneidiges Schwert. Und die sicherste Methode, sich damit nicht zu Tode zu bringen, ist die: Lerne es zu gebrauchen.«
Johannes schluckte und ließ die Worte in sich nachklingen. Natürlich würde er Schweigen bewahren. Aber er würde nicht hier bleiben. Nicht für immer. Doch wenn er Sankt Petersburg verlassen sollte, eines Tages, das wusste er plötzlich ganz sicher, dann an Deck seines eigenen Schiffes.
* * *
Onkel Michael war blass, aber sein Gesicht rötete sich vor Freude, als er Johannes wohlbehalten in die Stube treten sah. Das Haus hatte unter der Flut gelitten. Immer noch hingen Decken und durchweichtes Leder zum Trocknen. Iwan verzog keine Miene, als er Johannes eintreten sah, sondern nickte ihm nur kurz zu und beugte sich wieder über einen Lederschurz, der vom Wasser hart geworden war. Iwan versuchte ihn mit Sattelfett wieder weich zu reiben.
Das Leben ging weiter, begriff Johannes wohl erst in diesem Augenblick. Jeder nahm seine Arbeit wieder auf. Die Kanalbauer würden neue Gräben ausheben, diesmal tief genug, um bei der nächsten Flut die Überschwemmung im Zaum zu halten. Neue Arbeiter würden aus dem Zarenreich kommen, neue Bewohner aus den Städten. Fluchend würden sie die Häuser beziehen, die der Zar ihnen hier zu bauen befahl, und eines Tages sagen: So schlecht ist diese Stadt gar nicht.