»Thomas ist wirklich ein Zauberer!«, rief Marfa und umarmte Johannes. »Vor ein paar Tagen sahst du noch aus wie der Todgeweihte auf der Bahre! Erinnerst du dich daran, dass ich dich besucht habe?«
Johannes nickte und drückte seine Tante an sich.
»Ja«, murmelte er. »Ich danke dir, Marfa!« Verlegen machte sie sich los, er sah, dass sie rot geworden war. »Es hat uns viel gekostet«, sagte sie leise. In ihrer alten brüsken Art wandte sie sich um und griff nach einer Holzschale, um ihm eine heiße Kascha zurechtzumachen.
Einen Augenblick lang war er einfach glücklich.
Es war wie Heimkehren nach einer langen Zeit der Entbehrungen und er ließ sich bereitwillig in dieses wohlige Gefühl fallen. Onkel Michael sagte nicht viel. Das war auch nicht nötig, denn der Brief, den er in schöner Schrift abgefasst hatte und Johannes vorlegte, sagte viel mehr. Johannes wurde verlegen, als er Zeile um Zeile las. Es stand alles darin, was Onkel Michael ihm niemals persönlich gesagt hätte. Es war eine Aufstellung seiner Lehrzeit, eine Abhandlung über seine Fähigkeiten und besonderen Stärken, ein Dank des Meisters für geleistete Dienste.
»Du entlässt mich aus deinen Diensten«, stellte Johannes fest.
Michael nickte. »Ein Gesellenbrief ist es nicht, denn bis zur Prüfung fehlen dir noch zwei Lehrjahre.
Aber wenn du willst, steht es dir nun frei, in der Werft anzufangen. Es ist dein Weg, Johannes. Doch auch bei uns bist du immer willkommen.« Mit diesen Worten stand er auf und scheuchte die Gehilfen, die die Szene gespannt verfolgt hatten, in die Werkstatt.
Iwan raffte das Leder an sich, erhob sich ebenfalls und folgte ihnen, ohne sich noch einmal nach Johannes umzusehen. Johannes lächelte.
Viel später, als Johannes erfahren hatte, wie Marfa und Michael verhaftet und getrennt worden waren, als Marfa mit stockender Stimme über die vergangenen Schrecken berichtet hatte und weitere Stücke des Bildes sich zusammengefügten, zündete Marfa die erste Kerze an und setzte sich wieder zu Johannes an den Tisch. Sie holte die wertvollen Kristallschalen und schenkte sich und Johannes einen roten Wein ein, den er nie zuvor gekostet hatte. Schweigend prosteten sie sich zu. Es war kühl geworden, bald würde der Spätsommer in die ersten Herbststürme übergehen. Im Winter würden die Nächte undurchdringlich wie gefrorene Tinte sein. Es war Zeit, zu gehen – zurück zu seinem Lager bei Thomas Rosentrosts Kreaturen.
Johannes starrte auf die Kiste, die Marfa auf den Tisch gestellt hatte. Verzogen und aufgeweicht war das Holz. Es kostete ihn einige Kraft, den Deckel zu öffnen, der sich nur widerwillig und mit einem wehleidigen Knirschen öffnete. Sein Mut sank bei dem Anblick, den er zwar erwartet hatte, der jedoch trotzdem erbärmlich und traurig war. Sein Leben war zu einem Haufen schmutzig gelber, durchweichter Papiere zusammengeschnurrt. Modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Zerlaufene Tinte bildete bizarre Muster und Schlieren – die Schrift seines ertrunkenen Bruders Simon vermischte sich mit der von Onkel Michael. Behutsam zupfte er Schicht um Schicht auseinander und wurde sich immer mehr dessen bewusst, dass sein altes Leben endgültig vorbei war.
Das verwaschene Bildnis von Karpakows Truhe fand sich und, ganz hinten, das unkenntlich gewordene Porträt von Christine.
»Du solltest ihr schreiben«, bemerkte Marfa.
»Selbst wenn sie dich nicht geliebt haben sollte, hat sie ein Recht auf ein Ende.« Er nickte. Die Sehnsucht nach Jelena schnürte ihm wieder die Kehle zu. Es tat unendlich gut, Marfas Hand auf seiner Schulter zu spüren. »Du hast es richtig gemacht«, sagte sie zu seiner Überraschung. »Manchmal muss man einen Menschen loslassen, um ihn auffangen zu können.«
Er keuchte, als er bei der Weide ankam. Das Fieber hatte ihn erschöpft, es würde noch ein paar Tage dauern, bis seine Kräfte zurückgekehrt waren. Wie durch ein Wunder befand sich die Weide noch an derselben Stelle. Mit Wurzelklauen musste sie sich trotzig an das Erdreich geklammert haben. Johannes war enttäuscht, kein neues Zeichen am Baum zu finden, aber die Stimme der Vernunft flüsterte ihm zu, dass Jelenas Boot sicher von der Flut verschlungen worden war. Den Gedanken, Jelena könnte das Newadelta verlassen haben, schob er beiseite. Nein, solange Katka noch lebte, würde Jelena nirgendwohin gehen. Lange betrachtete er das gegenüberliegende Ufer, bevor er den nächsten Schritt wagte. Iwan hatte Wort gehalten – ein Stück weit entfernt lag ein kleines Boot am Ufer. Besonders vertrauenerweckend sah es allerdings nicht aus.
Die Ruder knarrten. Johannes’ Schulter war immer noch nicht sehr kräftig, sodass das Boot schnell vom Kurs abkam. Mehrmals gerieten die Bretter und die Werkzeuge ins Rutschen. Wie er sie zu der Hütte schaffen würde, hatte er sich noch nicht überlegt; fürs Erste kam es darauf an, die Hütte überhaupt wiederzufinden. In einer Tasche verstaut lagen einige Gläser mit Salbe und Kräutern, die Thomas Rosentrost mit genauen Anweisungen versehen hatte, außerdem ein Kochgeschirr, in dem sich Suppe zubereiten ließ. Der Schweiß lief Johannes über die Stirn, als er endlich am Nordufer ankam. An dieser Stelle war es einfach, das Ruderboot halb an Land zu ziehen und sicher anzubinden.
Der Weg war viel weiter, als er ihn in Erinnerung hatte. Seine Tasche war schwer wie Blei. Überall lagen noch Trümmer der Flut. Nach und nach führte der Weg leicht bergauf. Sträucher kamen in Sicht, erste Baumgruppen, die sich an den torfigen Boden klammerten. Als er in der Ferne das geduckte Häuschen entdeckte, musste er kurz stehen bleiben und tief durchatmen. Er hätte sich nicht gewundert, wenn das Haus wirklich Hühnerbeine gehabt hätte und bei seinem Anblick davongesprungen wäre. Johannes erkannte, dass er viel aufgeregter war als jemals zuvor in seinem Leben. Nicht einmal in Karpakows Kammer hatte er sich so kopflos gefühlt. Vielleicht entging ihm deshalb die Bewegung neben ihm. Er fuhr herum und stellte im selben Augenblick fest, dass er reflexartig die Hand zur Faust geballt hatte.
Jelena sah ihn zweifelnd an. Vergeblich suchte er nach einem Lächeln, aber sie stand nur da, unnahbar und abwartend, so wie er sie kannte. Nun, er hatte nichts anderes erwartet. An ihrem Unterarm entdeckte er eine frisch verheilte Wunde an der Stelle, wo Karpakow sie mit dem Messer verletzt hatte.
»Ich … habe eine Salbe«, begann er und deutete darauf. »Thomas Rosentrost hat sie mir gegeben.«
Verdutzt zog sie die Augenbrauen hoch. »Du kommst her, um mir eine Salbe zu bringen?«
Er presste die Lippen zusammen und überlegte sich die Antwort. Sein Zögern schien sie zu erstaunen, zu seiner Zufriedenheit bemerkte er, dass sich ein Hauch von Unsicherheit in ihrer Haltung abzeichnete. Jelena, so stellte er fest, hatte ebenso viel Herzklopfen. »Nein«, sagte er mit fester Stimme.
»Nicht nur, meine ich.«
Er stellte sein Gepäck ab und richtete sich gerade auf. Seine Hände schienen nervöse Vögel zu sein, die er kaum ruhig halten konnte, aber zumindest hatte er diesmal die richtigen Worte im Kopf. »Du hast mich zweimal zurückgewiesen, Jelena. Aber in jedem Märchen hat der Held drei Versuche.«
Endlich blitzte ein belustigtes Lächeln in ihrem Gesicht auf. »Du bist ein Held?«, fragte sie spöttisch.
Die Hoffnung, es könnte wieder ein wenig wie früher werden, als sie Freunde gewesen waren, ließ ihn zittern. »Beim ersten Mal hast du mich zurückgewiesen«, sprach er weiter. »Gut, das war mein Fehler, denn ich war unverschämt und habe dich geküsst. Für diesen ersten Versuch entschuldige ich mich. Beim zweiten Mal hast du mein Schiff zurückgewiesen, was mutig ist in Anbetracht dessen, dass du der einzige Mensch bist, dem ich je ein solches Angebot machen werde. Aber gut. Jelena, die Wunderschöne, ist wählerisch. Das dritte Mal werde ich nicht mit einem Kuss oder einem Schiff beginnen – ich fange bei Baba Jagas Haus an.«