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Johannes wurde neugierig. Er stand auf und schob sich unauffällig an den Tisch heran.

»Hat Zar Peter diesen Plan gezeichnet?«, fragte Marfa.

Sund lachte. »Natürlich – man könnte meinen, er hätte nicht genug mit den Schweden zu tun, nein, er muss auch höchstpersönlich an den Plänen herummalen. Sogar auf den Schlachtfeldern entwirft er noch Bauskizzen. Seht euch das an! Das Palastufer – und hier werden die Adligen wohnen.« Mit seinem dicken Finger tippte er auf einen schraffierten Bereich auf der linken Newaseite. »Und hier, die ganze Wassilijewskij-Insel – da wird kein Platz sein für einen Baum, wo er nicht hingehört.«

»Er wird Tausende von Leuten brauchen, um die Insel zu besiedeln«, sagte Johannes.

»Das ist nun wirklich keine Schwierigkeit«, warf Marfa in ihrer nüchternen Art ein. »Sein Befehl genügt und die Soldaten, die Adligen und Bürger werden sich auf den Weg machen, ob sie wollen oder nicht. Der Zar befiehlt, sie gehorchen. Und die Steine für ihre Häuser müssen sie vermutlich auch noch selbst mitbringen.«

Michael nickte. »Man sagt, er überlege bereits, alle wohlhabenden Bürger zu verpflichten, sich hier in Piterburch ein Zweithaus zu errichten. Wer mehr als fünfhundert Bauern besitzt, soll sogar zweistöckig bauen.«

»Auf einer zugeteilten Parzelle«, setzte Sund hinzu und lächelte. »Sie müssen sich am linken Newaufer niederlassen. Die Häuser sollen im englischen Stil gebaut sein. Man könnte denken, von Russland soll nichts Russisches mehr übrig sein, wenn der Zar mit seinem Land fertig ist. Kirchen wie in Rom, Kanäle wie in Amsterdam.« Er lachte. »Nun, mir soll es recht sein. Ich werde mich hier wie zu Hause fühlen.«

Johannes betrachtete die Skizzen und die kleinen Quadrate und Rechtecke, die für die Parzellen standen. Hier plante Peter also die Häuser für die Menschen, die er aus Moskau und anderen Städten nach Petersburg befehlen wollte, um sie wie Schachfiguren auf sein selbst gestaltetes Spielbrett zu setzen. So unähnlich war sein gezeichneter Stadtplan einem Spielbrett auch nicht, besonders wenn man sich die Pläne für die große Wassilijewskij-Insel anschaute.

Schnurgerade, parallele Straßen erstreckten sich über die ganze Insel. Auf der Nordseite war ein riesiger Parkgarten geplant. Nach dem Vorbild von Amsterdam sollte es eine prächtige Wasserstadt mit einem Netzwerk aus Kanälen werden. Holländische Kanalbauer und Wasserwerker waren dabei, die Wasserstraßen in den Boden zu graben.

»Und wie läuft es auf der Insel?«, wollte Michael nun wissen.

Sund zuckte die Schultern. »Im Prinzip gut«, seufzte er. »Aber Fürst Menschikow ist unzufrieden mit dem General-Architekten Jean Baptiste Leblond.

Jeden Tag gibt es zwischen den beiden die üblichen Intrigen, Streitereien … Das sage ich dir im Vertrauen, Michael. Wenn Menschikow nicht der beste Freund des Zaren wäre, ich würde ihn mit gutem Gewissen in einen seiner Kanäle stoßen. Er weiß es immer besser als die Kanalbauer. Aber uns zwei muss das jetzt nicht kümmern. Mach du mal Trezzinis Gerüst fertig, dann sehen wir weiter.« Verschwörerisch beugte er sich vor. »Es ist gut für dich, diesen Auftrag zu haben. Zu schnell gerät man hier in Verruf.«

Michaels Zornesfalte erschien auf seiner zerfurchten Stirn. »Was soll das heißen?«, blaffte er. »Keiner von uns ist in Verruf!«

»Er meint die Gerüchte um die Tote«, mischte sich Johannes ein.

Carsten Sund sah ihn überrascht an. »Also gibt es sie doch«, sagte er. »Stimmt es, dass sie in eurer Werkstatt gestorben ist? Man sagt, sie sei eine Missgeburt gewesen.«

»Unsinn!«, donnerte Michael. »Wer erzählt so etwas?«

»Gerüchte erzählen sich selbst, Michael. Unter den Schauerleuten kursiert die Geschichte, das tote Fräulein habe Flossen an den Händen gehabt. Einer will gesehen haben, wie sie zur Newa zurückrannte, aus der sie gekommen war.«

»Abergläubisches Geschwätz«, warf Marfa ein.

»Ich glaube, es war eine Adlige«, sagte Johannes leise. Drei Augenpaare starrten ihn perplex an.

Heftig schüttelte Marfa den Kopf und bekreuzigte sich. »Misch dich nicht ein, Johannes, hörst du?«, zischte sie. »Derejew hat gesagt, sie ist ein Bauernmädchen. Belasse es dabei.«

»Warum?«, erwiderte Johannes. »Macht ihr euch nie Gedanken um die Wahrheit? Zählt hier nur, was Derejew befiehlt?«

»Ja«, antwortete Michael in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Carsten Sund dagegen sah Johannes mit einem funkelnden Interesse an. »Er ist nicht dumm, dein Neffe«, sagte er zu Michael. Dann grinste er über beide feiste Backen und nahm noch einen Schluck.

»Die Bauern halten jedenfalls an der Version der Werftarbeiter fest. Am Friedhof haben sie eine Zeremonie abgehalten, die sie ›Russalnaja‹ nennen. Sie haben Kerzen angezündet und Begräbnisbräuche zelebriert. Das soll die Nixen davon abhalten, auf dem Land Unheil anzurichten. Trotzdem – nehmt euch in Acht. Irgendjemand hetzt gegen uns Ausländer. Es gehen auch Gerüchte über Mord um.«

* * *

Der neue Auftrag beanspruchte Michaels Werkstatt so sehr, dass er die Erlaubnis bekam, ein paar Leibeigene als Gehilfen dazuzuholen. Einer der Gesellen unterwies sie darin, wie sie Holz zu schleppen hatten, und brachte ihnen bei, die Kiefernstämme festzuhalten, während ein Gehilfe diese mit dem Schrotbeil zu groben Vierkantbalken zurechthaute. Johannes betrachtete die Männer genau. Mit düsteren Mienen standen sie da, in Kittel und Hosen gekleidet, die Strümpfe bestanden aus Stoffstreifen oder anderen Lumpen, die mit Schnüren oder Rindenstreifen bis zu den Knien geschnürt waren. Bei dem Landvolk bestand Zar Peter nicht darauf, sein Bartverbot durchzusetzen, dementsprechend fielen ihnen struppige Bärte auf die Brust. Ihre Haare jedoch waren bis zu den Ohren abgeschnitten, und wie die meisten Bauern trugen auch diese hier Pelzkappen, obwohl es Sommer war. Auch wenn sie sich abweisend und schweigsam gaben, sah Johannes ihnen an, wie froh sie waren, nicht mehr ohne Werkzeuge und Schubkarren mit bloßen Händen Erde in grobe Stoffsäcke füllen zu müssen, mit der das sumpfige Land aufgeschüttet wurde. Mochten sie auch zu Hause in ihren Dörfern in Hütten gewohnt haben – hier waren sie in feuchten, schmutzigen Verschlägen untergebracht, mussten schlechtes Wasser trinken und erhielten nur wenige Werkzeuge. Viele waren unter der Knute der Aufseher gezwungen, die Erde, die sie transportieren mussten, einfach mit den Händen in die Jacken zu schaufeln; Johannes hatte auch Bauersfrauen gesehen, die dafür ihre Rockschöße benutzten. Nun, zumindest für die Zeit ihrer Schicht in Michaels Werkstatt würden die Leibeigenen unter besseren Bedingungen arbeiten.

Erst ein paar Tage später fiel Johannes auf, wie oft der Gottesnarr Mitja in der Nähe der Werkstatt saß.

Anscheinend tat er dort nichts, als vor sich auf den Boden zu starren und mit wiegendem Oberkörper Soldatenlieder zu singen, aber Johannes wusste sehr wohl, dass der Narr ihn beobachtete. Als Marfa ihn bemerkte, brachte sie ihm Brot und sprach freundlich mit ihm. Einer der Gehilfen ließ sich von ihm sogar segnen, eine Handlung, die Johannes wieder einmal befremdete. Ihm war die Anwesenheit des Verrückten unangenehm. Mehr als einmal stand er nachts auf und schaute auf die Straße, wo er die Gestalt zu sehen glaubte. Doch auch ohne Mitjas Anwesenheit waren Johannes’ Nächte sehr kurz. Noch immer schob sich das Bild des toten Mädchens in seine Gedanken.

Beinahe zur Besessenheit wurde die Frage, wer sie wirklich war und wohin sie verschwunden war. Aber selbst unauffällige Erkundungen bei den anderen Handwerkern und bei dem Münzschläger, der in der Festung arbeitete und sich von Michael eine Geldkassette fertigen ließ, brachten kein Ergebnis.

Eines Morgens trat Johannes aus der Werkstatt und stolperte beinahe über Mitja, der sich wie ein Wachhund vor der Tür zusammengekauert hatte. Der Narr schrie auf und sprang auf die Beine. »Gestohlen hast du sie!«, brüllte er und stach mit dem Zeigefinger in Richtung von Johannes’ Auge in die Luft.