»Dem Herrgott aus den Armen gerissen!« Dann begann er zu weinen. Tränen rannen über sein schmutziges Gesicht. »Zu der Weide hast du sie geschleppt und sie ertränkt wie eine Katze.« Einige der Arbeiter sahen herüber und durchbohrten Johannes mit grimmigen Blicken. Ihm war unbehaglich zumute. Die Worte des Narren konnten ihm schnell gefährlich werden. Alles in ihm wehrte sich dagegen, den feindseligen Verrückten anzulächeln, dennoch versuchte er einen freundlichen Eindruck zu machen.
»Lass mich vorbei, Mitja«, sagte er versöhnlich.
»Ich habe dir niemanden gestohlen.«
Mitja wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel
über das Gesicht und schmierte Spucke und Tränen über die Wange. Ein seltsames Muster aus dunklen und hellen Schlieren blieb auf seinem Gesicht zurück und ließ ihn noch verrückter und fremder aussehen.
Seine Augen glühten vor Hass und Verzweiflung.
»So viele Katzen!«, kreischte er. »Alle hast du sie aufgefressen! Und die räudigen Felle breitest du über Gottes goldenen Kelch.«
Seine Stimme schraubte sich hoch. Dann, plötzlich, drehte er sich um und fegte über den Platz. Mitten im Lauf blieb er stehen, schlitterte und verlor beinahe das Gleichgewicht.
»Ich rechne euch aus!«, schrie er drohend. »Jede Stunde! Ich bin Mathematiker!«
Als ihm keiner antwortete, rannte er davon. Die Gesichter der Arbeiter wandten sich Johannes zu.
Eine Sekunde lang konnte er in den Augen der Leibeigenen lesen wie in einem Buch. Im Spiegel ihrer hasserfüllten Blicke sah er sich selbst: einen Eindringling und Ketzer, den der Teufel geschickt hatte.
Schuld daran, dass der Zar sich vom alten Russland abgewandt hatte, um auf dem Rücken seiner Arbeiter ein neues Reich zu errichten. Die Ausländer, die Deutschen, die Ausbeuter und Gesandten des Teufels. In diesem Augenblick begriff Johannes, dass Zar Peters Befehle, seine Neuerungen und seine großen Pläne nur die dünne Kruste über einem uralten kochenden Vulkan bildeten. Oben auf der Kruste lebten Zar Peters Leute, glatt rasiert und nach französischer, deutscher oder ungarischer Mode gekleidet.
Tief unten aber, im brodelnden Kessel, sammelten sich die einfachen Bauern. Man konnte ein Volk verkleiden wie einen Wolf im Märchen. Aber es blieb ein Wolf – und sobald die Gelegenheit kam, würde dieser Wolf Deutsche wie Johannes mit Genuss und Grausamkeit verschlingen.
Einer der Bauern wagte ein verächtliches Lächeln und spuckte aus. Andere wandten den Blick ab und bekreuzigten sich. Johannes straffte die Schultern und zwang sich trotz seiner weichen Knie seinen Weg fortzusetzen.
* * *
»Was kann er damit gemeint haben, dass ich das Mädchen zur Weide geschleppt haben soll?« Missmutig rührte Johannes in seiner Kohlsuppe.
Marfa saß ihm gegenüber und versuchte einen Lederhandschuh ihres Mannes zu flicken, der ihn bei der Arbeit vor wundgescheuerten Stellen bewahrte.
»Die Gerüchte hat er gehört, das ist alles«, antwortete sie. »Gib nichts darauf, er hätte es zu jedem gesagt. Niemand wird wagen gegen Derejews Verlautbarung etwas einzuwenden.«
»Die Verlautbarung war gelogen«, sagte Johannes leise. »Das wissen wir beide.«
Sie seufzte und leckte den dicken Zwirn an. »Mag sein, mag nicht sein. Vergiss die Geschichte endlich.
Sie geht uns nichts an. Denk an etwas anderes. Denk von mir aus an Christine!«
Gegen seinen Willen errötete Johannes, als er den Namen der Kaufmannstochter hörte. Es war ihm peinlich, dass Marfa von ihr wusste, aber in der Deutschen Vorstadt in Moskau blieb nichts lange verborgen.
»Hat sie dir schon geschrieben?«
Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf. Er besaß nichts von Christine außer einer Zeichnung, die ihre Schwester angefertigt hatte. Sie hatte das schmale Gesicht mit den zart geschwungenen Augenbrauen gut eingefangen und auch das lange goldbraune Haar, das geflochten und in einem Knoten aufgesteckt war. Aber was das Bild für Johannes besonders wertvoll machte, war Christines Lächeln, ihr leicht abwesender, verträumter Blick und das tiefe Blau ihrer Augen. Wenn er nachts wachlag, stellte sich Johannes vor, wie er eines Tages nach Moskau zurückkehren würde – als Schiffszimmermann. Und dann würde er mehr in seiner Tasche haben als ein paar Erinnerungen und ein Papierbild.
»Vielleicht erlaubt ihr Vater ihr nicht, zu schreiben«, sagte Marfa und biss den Faden ab. »Schon als wir noch in Moskau lebten, hatte er ein paar andere Bewerber für sie ausgesucht.«
Die Richtung, die das Gespräch allmählich nahm, behagte ihm ganz und gar nicht, zumal nun Iwan in der Tür erschien und zum Tisch schlurfte. Johannes wusste nicht, wie lange der alte Leibeigene schon im Türschatten lauschte. Ächzend ließ er sich auf die Bank nieder und griff zum Wasserkrug.
»Na, Wanja?«, sagte Marfa. »Da hinten ist Brot.
Nimm dir ein Stück.«
Iwan nickte und murmelte etwas in seinen Bart.
Dann holte er sein Schnitzzeug und arbeitete an einem hölzernen Honigtopf weiter, den er am Tag zuvor begonnen hatte. Marfa beendete ihre Arbeit, warf Johannes einen viel sagenden Blick zu und ging in die Werkstatt. Johannes und Iwan blieben allein am Tisch zurück. Schweigend löffelte Johannes seine kalt gewordene Suppe. Obwohl er vor Müdigkeit schon Traumbilder sah, sobald er nur zwinkerte, würde er gleich wieder in die Werkstatt zurückkehren, um Keilecken für ein Gerüst abzumessen und zu sägen. Das war eine langweilige Arbeit, die dennoch getan werden musste. Und sein Onkel traute nur ihm zu, die Winkel richtig zu stellen.
»Mitja ist wieder beim Haus«, murrte Iwan. »Geh ihm aus dem Weg.«
Überrascht sah Johannes hoch. Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass Iwan von sich aus das Wort an ihn richtete. »Ich versuche es«, erwiderte er. »Es ist nicht so, dass ich seine Gesellschaft suche, er sucht meine!«
Iwan nickte knapp. »Der Narr sieht alles«, sagte er leise. »Es lässt ihm keine Ruhe, dass sie dir im Kopf herumspukt.«
Christine?, dachte Johannes unwillkürlich.
»Die Tote«, fuhr Iwan fort, als hätte Johannes diesen Gedanken laut ausgesprochen. »Sie ist immer noch hier, weil du sie nicht fortlässt.« Hastig bekreuzigte er sich auf orthodoxe Art, holte ein winziges hölzernes Kreuz hervor, das er an einer Kette um den Hals trug, und küsste es.
Johannes legte den Löffel hin und schob den halb leeren Suppenteller von sich weg. Mit einem Mal war ihm der Appetit vergangen. Es schien, als hätte Iwan die Wölfe nun auch ins Haus geladen. »Hör auf, Iwan«, sagte er grob. »Ich halte niemanden fest – und wenn es drei Narren behaupten. Lass mich in Ruhe, ja?« Mit diesen Worten stand er auf und ging in die Werkstatt zurück.
Dr. Rosentrosts Monster
Tief in der Nacht, als er wieder wachlag, dämmerte Johannes, wie Recht Iwan hatte. Er hielt die Tote fest -weil er nicht wusste, was mit ihr geschehen war.
Warum bemäntelte Derejew ihr Verschwinden mit einer Lügengeschichte? Johannes setzte sich auf und rieb sich die Augen. Es musste längst nach Mitternacht sein. Er hatte das Gefühl, zu ersticken. Er musste hinaus – an die Luft! Ohne besonders darauf zu achten, leise zu sein, nahm er seine Lederweste und ging zur Tür. Draußen atmete er tief durch. Mitja war weit und breit nicht zu sehen.
Die Unruhe, die ihn im Haus erfasst hatte, trieb ihn an der Werkstatt vorbei in nordöstlicher Richtung zum Ufer der Newa. Die weißen Nächte hatten ihren Höhepunkt erreicht, die diffuse Helligkeit eines Sommerabends hüllte ihn ein. Gespenstisch war das Licht in Anbetracht der Stille, die ihn umgab. In den Baracken der Leibeigenen, an denen er vorbeiging, glaubte er das tiefe Atmen der Schlafenden zu hören.
Rechts von ihm, in Richtung der großen Morastflächen, sah er in der Ferne gebückte Gestalten, die sich abmühten Eichenpflöcke in den sumpfigen Boden zu schlagen. Sankt Petersburg war keine Stadt, die schlief. Hier wurde in Schichten gearbeitet. In der ersten Schicht waren es etwa achttausend Mann, in der zweiten um die dreitausend. Natürlich veränderte sich die Zahl ständig, nicht nur durch die Toten, sondern vor allem dadurch, dass viele Arbeiter einfach davonliefen. Verdenken konnte Johannes es den armseligen Gestalten nicht. Ständig strömten neue Fronarbeiter aus allen Teilen des Zarenreiches herbei. Männer und Frauen, meistens Bauern, manchmal auch Soldaten und Sträflinge. Meist waren sie schon von der langen Reise erschöpft und am Rande ihrer Kräfte. Johannes ertappte sich dabei, wie er den Blick von den Arbeitern abwandte. Noch ein, zwei Meilen am Newaufer entlang und er würde die Baracken und Baustellen für eine Weile hinter sich lassen können.