Wir waren aber nicht lange genug abgelenkt worden.
Wieder näherte sich die Tina der Kette und schwang breitseits herum. »Feuer!« schrie Callimachus.
Pfeile bohrten sich in das dichte Geflecht, richteten aber keinen großen Schaden an, obwohl manche Spitzen bis zu einem Fuß weit hindurchdrangen. Die Pfeile steckten in der starken Schutzwand fest. Außerdem gab es von den Piratengaleeren heftiges Gegenfeuer zum Schutz der kleinen Boote. Die Flechtschilde unserer Bogenschützen waren im Nu gespickt mit Federn und Holz.
Ein schwerer Katapultstein ließ die Reling unserer Heckaufbauten zersplittern.
»Dichter heran! Dichter heran!« rief Callimachus.
Auf kurze Entfernung wurde brennendes Pech durch die Luft geschleudert. Pfeile suchten sich rasend ihr Ziel. Plötzlich erschien ein Arm über der Reling dann kletterte ein tropfnasser Mann an Bord. Ich begegnete ihm mit dem Schwert und zwang ihn ins Wasser zurück. Deutlich sah ich die schimmernden Augen von Piraten, nur wenige Fuß entfernt, durch ein wenig Wasser und die Kette voneinander getrennt.
Hinter der Reling des gegnerischen Schiffes tauchte ein Mann auf und hob seinen Bogen. Doch in der nächsten Sekunde traf ihn ein Pfeil in die Brust und ließ ihn zurücktorkeln.
Ich hörte die Kette an der Außenwandung der Tina entlangschaben, dann traf das Steuerbord-Scherblatt gegen das Holz eines Langbootes. Gleich darauf glitten wir an der Kette entlang, und unsere Steuerbord-Ruder schlugen die geflochtene Deckung eines anderen Ruderbootes locker, das sich der Kette zu sehr genähert hatte.
Auf der gegenüberliegenden Galeere wurden Fäuste geschüttelt.
Die Tina wendete bereits wieder. Die Überreste zweier Langboote schwammen im Wasser.
»Ruder zurück!« rief Callimachus. Die Tina entfernte sich rückwärts, den Bug auf die Kette gerichtet.
Die Piratenschiffe waren ebenfalls auf Abstand gegangen. Die zehnte Ahn, die goreanische Mittagsstunde, stand bevor.
Callimachus übergab seinem Offizier das Kommando und verließ das Vorderkastell.
»Glaubst du, Voskjard wird sich zurückziehen?« fragte ich.
»Nein.«
»Wann wird er es wieder versuchen?« wollte ich wissen.
»Wann rechnest du damit?«
»Heute abend.«
»Natürlich.«
2
Langsam fuhr die Tina in der Dunkelheit die Kette ab. Leise, beinahe unhörbar senkten sich die Ruder ins Wasser und wurden wieder emporgehoben.
»Irgendwo dort draußen lauern sie«, sagte Callimachus.
Zwei Schiffslaternen waren an Stangen links und rechts des Bugs über die Bordwand geschoben worden und verbreiteten ein gelbliches Licht. Im Schein der Steuerbordlaterne waren hier und dort die schwarzen Rundungen der Kette sichtbar, die sich vor allem in der Nähe eines Stützpfostens über das Wasser erhoben.
»Still!« sagte Callimachus. »Halt!« rief er dem Rudermeister leise zu, der unmittelbar hinter dem Bugkastell Aufstellung genommen hatte. Die Ruder der Tina wurden abgehoben und ein Stück eingezogen. Vom eigenen Schwung getrieben, glitt das Schiff in südlicher Richtung an der Kette entlang. Gleich darauf knirschte die Kette unterhalb des Steuerbord-Scherblatts an der Schiffshülle entlang.
»Was hast du gehört?« fragte ich.
Wir blickten über die Bordwand auf die Kette, die hier etwa sechs Zoll über dem Wasser hing. »Sie waren hier«, sagte Callimachus. »Ich bin ganz sicher. Geh aus dem Licht!«
Ich zuckte zurück.
»Hoffnungslos«, sagte er betrübt. »Sie kommen und gehen, wie es ihnen gefällt – und ziehen sich zurück, wenn wir anrücken.«
»Dagegen können wir kaum etwas tun«, bemerkte ich.
»Löscht die Laternen!« befahl Callimachus. »Nein, halt! Schilde und Schwerter! Schilde und Schwerter, Leute!«
Kaum war dieser Ruf ertönt, da flogen auch schon Enterhaken über die Bordwand herauf und gruben ihre Spitzen in das Holz. Die Eisenhaken standen sichtlich unter Spannung: Männer stiegen an den Tauen empor, die daran befestigt waren. Aber sie trafen auf Widerstand: Schreiende und fluchende Verteidiger trieben die dunklen Gestalten mit Schilden und spitzem Stahl zurück. Die Piraten waren mit Beibooten angerückt und mußten die steile Bordwand erklimmen; sie konnten nicht aus gleicher Höhe von Deck eines großen Schiffes zu uns herüberspringen. So lag der Vorteil ganz bei uns, und nur ein Mann erreichte das Deck. Seinen starren Körper, an einem Dutzend Stellen durchbohrt, warfen wir in den Vosk zurück, hinter seinen zurückweichenden Kameraden her.
Callimachus wischte sein Schwert an der Tunika ab. »Welch eine Kränkung!« sagte er grinsend. »Glauben die Kerle ernsthaft, wir sind ein wehrloses Handelsschiff, das sie ungestraft so tollkühn angreifen können?«
Ich zuckte die Achseln.
»Löscht die Laternen!« sagte Callimachus zu einem seiner Männer. »Vielleicht lauern die Piraten noch in der Nähe.«
»Wir sollten das Beiboot aussetzen«, sagte ich zu ihm. »Mit umhüllten Rudern könnten wir unseren Abschnitt der Kette besser bewachen.«
»Wieso?«
»Unser Schiff, selbst wenn wir alle Lichter löschen, kann sich der Kette niemals so leise nähern wie ein kleines Boot. Die Piratenboote brauchen sich nur von der Kette zurückzuziehen.«
»Das Beiboot«, entwickelte Callimachus meinen Gedanken weiter, »müßte westlich der Kette unterwegs sein, um sich den Piratenbooten noch unauffälliger nähern zu können.«
»Richtig«, sagte ich.
»Wer da?« rief eine Stimme aus der Dunkelheit.
Wir legten die Ruder still.
»Fertig!« flüsterte ich den Männern in meiner Begleitung zu. Wir näherten uns der Kette aus westlicher Richtung. Unser Ruderboot war vor einer Viertel-Ahn über die Kette hinweg zu Wasser gelassen worden. Inzwischen waren wir in wenigen Metern Abstand an einigen im Fluß ankernden Piratenschiffen vorbeigekommen.
»Wer da?« rief die Stimme.
»Jetzt!« sagte ich. Jäh richteten sich fünf Männer hinter der Bordwand auf. Aus unmittelbarer Nähe wurden die Pfeile auf das andere Boot abgeschossen, das wir im gleichen Moment berührten. Ich hörte Männer schreien und Werkzeuge ins Boot poltern. Mit gezogenen Schwertern stürmten wir das andere Boot. Wir sagten kein Wort. Geschrien wurde nur von den Piraten. So mancher rettete sich durch einen schnellen Sprung ins Wasser.
»Was ist da los?« rief eine Stimme von einem der größeren Piratenschiffe, die weiter entfernt von der Kette beigedreht lagen.
Doch schon waren wir weitergeglitten.
»Zurück! Zurück!« rief eine Stimme angstvoll in der Nacht.
»Rückwärtsrudern«, sagte ich. »Und halten.«
Das Ruderboot verharrte dümpelnd im Wasser.
»Wir wissen, daß ihr da seid!« rief ein Mann aus der Nähe der Kette. »Wir sind bewaffnet! Es ist euer Risiko, wenn ihr euch heranwagt! Gebt euch zu erkennen!«
Die Angst des Mannes war deutlich zu spüren, und ich lächelte. Befehle gab ich nicht.
»Gebt euch zu erkennen!« wiederholte die Stimme.
Wir schwiegen.
In einem Angriff sah ich keinen Sinn. Den Überraschungsmoment hatten wir verloren, denn wir hatten im Schutze der Nacht bereits drei Ruderboote erobert. Die Piraten wußten längst, daß an der Kette eine Gefahr umging. Sie hatten kühn vorgehen wollen, mußten nun aber feststellen, daß wir das nicht zuließen.
Wir schwiegen.
»Zurück zum Schiff!« sagte die Stimme in der Nacht. »Zurück zum Schiff!«
Wir ließen das Boot an uns vorbeigleiten; nach den Geräuschen zu urteilen, war es einige Meter entfernt.
Anschließend ließ ich unser Boot zur Kette vordringen, wo ich die Eisenglieder abtastete. An einem der schweren Eisenstücke machte ich eine konkave Unebenheit aus, die in eine kantige, geometrisch präzise Vertiefung überging, zu schmal, um den Finger hineinzustecken. Ich tastete den Einschnitt in das Kettenglied nach beiden Seiten ab. Er war diagonal geführt und reichte etwa einen Zoll tief.