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»Zappele nicht herum«, sagte Policrates. Ich hatte die Fäuste geballt. Die engen Fesseln an meinen Hand- und Flußgelenken fühlten sich ausgesprochen heiß an. Am blauen Himmel über mir zog eine Voskmöwe ihre Kreise. Ohnmächtig ballte ich die Fäuste.

»Das ist schon besser«, sagte Policrates und nahm die Klinge fort. »Leider sind wir nicht auf Widerstand gestoßen. Es wäre sicher hübsch gewesen, dich bei einem Kampf gegen andere Schiffe auf deinem Scherblatt zu beobachten. Heute abend darfst du vielleicht unseren frisch eroberten Sklavinnen Wein kredenzen. Und wenn wir morgen einige Marinemanöver durchführen, ist es dir vielleicht gestattet, an deinen Posten auf dem Scherblatt zurückzukehren.« Ich hörte, wie Policrates und einige andere sich abwandten.

»Es ist still«, sagte Kliomenes nervös.

»Ich hatte gehofft, daß es Widerstand gibt«, meinte Callisthenes.

»In Victoria sind wir noch nie auf Widerstand gestoßen«, sagte Kliomenes. »Allerdings ist es auch nie so still gewesen.«

»Und nie zuvor«, bemerkte Callisthenes, »hatten die Feiglinge Victorias soviel Grund für ihre Angst. Wenn die Stadt ausgeräubert ist, wird Policrates sie niederbrennen lassen.«

»Als heilsame Lektion für alle anderen Städte am Fluß«, bestätigte Kliomenes.

»Ja.«

»Schließen wir uns Policrates an!« sagte Kliomenes.

Ich hörte, wie die beiden die Reling des vertäuten Schiffes verließen und über die Pier zum Hafen gingen. Endlich war ich allein. Zornestränen stiegen mir in die Augen, und ich bäumte mich in den Fesseln auf. Blut lief mir über den Rücken. Ich vermochte einige Zoll weit an der Klinge abwärts zu rutschen, kam aber nicht frei. Von meinen Häschern beobachtet, hätte ich mich nie so heftig bewegen können, doch jetzt hoffte ich die Fesseln etwas lockern zu können. Sie bestanden nicht aus Bindefaser, vielmehr waren es einfache Seile, verknotet von Männern, die keine Erfahrung als Krieger oder Wächter hatten. Überdies war ich kräftig. Und das Metall hinten an der Klinge war zwar nicht messerscharf, aber schmal und rechteckig. Wenn ich genug Zeit hatte, konnte ich vielleicht freikommen. Aber nach kurzer Zeit mußte ich mein Bemühen verzweifelt aufgeben. Es war hoffnungslos. Ich war schweißbedeckt. Aus der Rückenwunde hatte ich schon viel Blut verloren und fürchtete zu verbluten.

Allerdings hing ich nun ein Stück tiefer an der Klinge. Wenn ich den Kopf hob und mühsam verdrehte, konnte ich bis zur Hafenstraße hinüberblicken. Dort, etwa hundert Meter vom Büro des Pierverwalters entfernt, hatten sich die Piraten versammelt, um ihren Angriff auf die Stadt zu beginnen. Die breite Fläche zwischen dem Hafenbecken und den ersten Häusern war leer. Der Hafen Victorias schien verlassen zu sein. Offenbar war die ganze Stadt verlassen worden, dem Zorn der rachedurstigen Flußpiraten ausgeliefert.

16

»Jungs, habt ihr Lust auf teure Weine und köstliche Leckereien?« rief Policrates.

»Ja, Kapitän!« brüllte ein Mann.

»Habt ihr Lust auf schön gegerbtes Leder und kostbar gewebte Stoffe?«

»Ja, Kapitän!«

»Habt ihr Lust auf mehr Gold, Silber und Edelsteine, als ihr überhaupt verwenden könnt?«

»Ja, Kapitän!«

»Habt ihr Lust auf gutgebaute Sklavinnen, die ihr zu eurem Vergnügen erziehen wollt?« fragte Policrates.

»Ja, ja, Kapitän!« riefen Hunderte von Männern. Ich hörte, wie Waffen gezogen und aneinandergeschlagen wurden.

»Dann nehmt euch Victoria!« rief Policrates. »Die Stadt gehört euch!«

In diesem Moment begann auf dem Dach des Fachwerkhauses, in dem sich das Büro des Hafenmeisters befand, die Alarmstange zu erklingen. Ein einzelner Mann stand auf dem Dach und schlug mit einem riesigen Hammer dagegen. Überrascht und verwirrt fuhren die Piraten herum. Beinahe im gleichen Augenblick stürmten aus den scheinbar verlassenen Gebäuden am Hafen die erzürnten Bürger Victorias hervor, brüllend, hastend, eine unglaubliche Sammlung von Ketten, Werkzeugen und Waffen schwingend. Bogenschützen erschienen auf Dächern. Ganze Pfeilsalven sirrten wie dunkler, waagerechter Hagel über die Köpfe der angreifenden Bürger und bohrten sich in die verwirrte, urplötzlich ins Wanken geratende Masse der Piraten am Beginn der Pieranlagen. Im nächsten Moment trafen die angreifenden Bürger wie galoppierende gehörnte Kailiauk, wie unlenkbare, in Panik ausgebrochene Bosk, Piken und Speere waagerecht stellend, Ketten schwingend, Schwerter, Bootshaken, Äxte und Schaufeln schwingend, auf die erstarrt dastehenden, verwirrten Reihen der Piraten.

»Kämpft!« hörte ich Policrates brüllen. »Kämpft!«

Ein Pirat wurde mit einer Kette erwürgt. Eine herumwirbelnde Kette erschlug einen zweiten stoppelbärtigen Burschen von den Schiffen. Piken fanden ihr Ziel. Ein Pirat stürzte über den Körper eines anderen, der von einem Pfeil niedergestreckt worden war. Ein erzürnter Bürger hieb mit einem scharfen Bootshaken um sich und streckte damit so manchen Gegner nieder. Andere gingen geschickt mit Schwertern vor. Die Bogenschützen hatten die Dächer verlassen, um sich in den Kampf zu stürzen und sich ihre Ziele aus unmittelbarer Nähe zu suchen. Fünf Piraten wurden vom Rand des Hafenbeckens ins Wasser gestoßen. Immer neue Victorianer erschienen aus Gassen und Bauwerken weiter unten am Hafen und griffen mit Speeren und Schwertern in den Kampf ein.

»Kämpft!« brüllte ich. »Kämpft für Victoria!«

»Wehrt euch!« kreischte Policrates.

Ein Dutzend Piraten machte kehrt und lief zu den Schiffen zurück.

Ich bäumte mich an der Scherklinge auf. Mit hektischen Bewegungen versuchte ich mich zu befreien. Aber ich war hilflos. Goreaner hatten mich gefesselt, zwar nicht sonderlich fachmännisch, aber mit großer Festigkeit.

»Bleibt, haltet die Stellung!« hörte ich Policrates rufen. Ich sah, wie er einen Schwerthieb gegen den Rücken eines Piraten führte, der vom Ort des Geschehens hatte fliehen wollen. »Bleibt hier! Kämpft!«

Ein weiteres Dutzend Piraten machte kehrt und lief auf die Schiffe zu. Und ein weiteres Dutzend!

»Rückzug!« rief Policrates. »Zurück auf die Schiffe!«

»Zurück auf die Schiffe!« brüllte auch Ragnar Voskjard, ein Ruf, der von Kliomenes und Callisthenes aufgegriffen wurde.

Männer eilten an mir vorbei. Einige waren verwundet. Schwerter durchtrennten Haltetaue. Ich spürte, wie sich Policrates’ Flaggschiff im Wasser bewegte. Nun wurde bereits auf der Pier gekämpft. Hinter mir sprangen Männer an Bord. Ob auf diese Weise eine Besatzung zusammenkommen würde, war mir unklar. Policrates, gefolgt von Kliomenes und Callisthenes, hastete an mir vorbei, sprang gegen die Bordwand und kletterte über die Reling. »Abstoßen mit Bootshaken!« befahl Policrates. »Ruder ausfahren!« Das Piratenschiff, das links von mir, auf der anderen Seite der Pier, festgemacht war, löste sich ebenfalls aus seiner Position. Wir glitten von der Pier fort. Ein Mann, der noch an Bord springen wollte, verfehlte die Reling und fiel ins Wasser. Sofort wurde er von Aalen angegriffen und hauchte zappelnd und schreiend sein Leben aus. Im Wasser unter mir wimmelte es von Aalen. Das Blut, das von meinem Rücken heruntertropfte, mußte die Tiere angelockt haben.

Auf den Piers drängten sich Männer. Piraten stürzten ins Wasser. Andere, die weit genug hinten standen, um zu fliehen, machten kehrt und eilten auf die Schiffe zu. Einige hasteten an mir vorbei und sprangen offenbar auf Ruder, in der Hoffnung, sich festhalten und daran hochklettern zu können. »Behindert die Ruder nicht!« rief Policrates. Ich hörte, wie hinter mir ein Körper ins Wasser glitt. Im gleichen Moment hatte sich das Schiff von der Pier gelöst. Ich sah Piraten, die die Waffen fortwarfen und am Kai niederknieten. In den Reihen der Victorianer wurde gejubelt.

»Gut gemacht, Leute!« rief ich. »Gut gemacht!«

»Wir kommen wieder!« brüllte Policrates zum Land hinüber. »Von uns werdet ihr noch hören. Wir kommen wieder, ihr Sleen! Wir kommen wieder!«