Im nächsten Moment prallte das Heck des Schiffes gegen eine andere Piratengaleere, die aus dem Gedränge freizukommen versuchte. »Schafft den Idioten aus dem Weg!« kreischte Policrates. Pfeile, die mit öldurchtränkten, brennenden Lumpen umwickelt waren, trafen das Schiff. Unser Bug bewegte sich ruckhaft zur Seite. Unter mir ringelten sich Aale im Wasser.
»Ruder rückwärts!« kreischte Policrates, und Kliomenes wiederholte das Kommando. »Feuer löschen!« forderte Callisthenes. Wieder stieß unser Heck knirschend mit einem anderen Piratenschiff zusammen. Blut strömte die Klinge hinab, vor der ich hing, doch merkte ich in meiner Begeisterung kaum etwas davon.
»Gut gemacht, Leute!« rief ich den Männern Victorias zu und spürte wenig von den Schmerzen im Rücken oder an den Bein- und Fußgelenken. Dann plötzlich durchbrach ein etwa vier Fuß langer und zehn Pfund schwerer Körper die Wasseroberfläche und sprang empor. Ich spürte die Kiefer zuschnappen und an dem Scherblatt entlangscharren. Und ringelnd fiel das Gebilde wieder ins Wasser. Das Blut erregte die Aale. Erneut versuchte ich mich zu befreien und zerrte heftig an den Fesseln, versuchte sie an der Rückseite der Klinge entlangzuschaben.
Urplötzlich war ich aufgeschreckt. Meine Mühen hatten nichts anderes bewirkt, als daß ich einige Zoll an der Klinge abwärts gerutscht war. Nun fürchtete ich, in die Reichweite der springenden Aale zu geraten. Ich versuchte mich an der Klinge wieder aufwärts zu bewegen. Arme und Beine gegen das Klingenmetall drückend, konnte ich in meine ursprüngliche Position zurückkehren, aber nicht weiter, denn meine Fußfesseln verfingen sich an der Unterkante der Klingenhalterung. So war es ungemein schmerzhaft und schwierig, sich oben an der Klinge zu halten.
Ich schwitzte vor Angst. Im nächsten Moment ruckte Policrates’ Flaggschiff, das erneut gegen ein anderes Schiff prallte, zur Seite, und ich rutschte an der Klinge wieder abwärts. Meine Füße, die zu beiden Seiten des Metalls zurückgebunden worden waren, befanden sich kaum noch einen Fuß über dem Wasser. Entsetzt versuchte ich wieder hochzusteigen, doch die Fesseln hielten mich diesmal fest.
Wieder spürte ich einen spitzen Biß am Bein: Einer der unangenehmen Aale versuchte seine Beute zu finden. Und wieder kämpfte ich mich zollweise an der Klinge höher. Draußen auf den Fluß hinaus würden uns die Aale vermutlich nicht folgen.
Plötzlich ging mir auf, daß ich vielleicht nur noch wenige Augenblicke Zeit hatte, ehe das Schiff in die Flußströmung zurückkehrte. Jäh ließ ich mich an der Klinge hinabrutschen. »Habt ihr Hunger, kleine Freunde?« fragte ich. »Riecht ihr Schweiß und Angst? Erregt euch das Blut? Springt zu, ihr kleinen Brüder! Tut mir einen Gefallen.« Ich betrachtete mehrere kleine, spitz zulaufende Köpfe, die aus dem Wasser ragten und deren Augen wie mattschwarz wirkten. »Kostet das Blut!« ermutigte ich sie, schob mich gegen die Klinge zurück und versuchte meine Knöchel am Stahl zu schaben.
Ich wußte, daß die Kiefer dieser Aale, wenn sie richtig zubissen, ein großes Stück Fleisch aus einem Menschen herausreißen konnten. Außerdem war mir bekannt, daß der Aal seine Nahrung selten außerhalb des Wassers sucht, daß solche zuschnappenden Bisse vermutlich schwer ihr Ziel finden würden. Mehr als ein Aal hatte bei seinen Attacken bereits die Klinge und nicht meinen Körper getroffen; vielleicht bezogen sich die Angriffe ohnehin nur auf die Stelle, an der das Blut ins Wasser tröpfelte.
Das Wasser unter mir schäumte förmlich vor zuckenden, sich windenden Leibern. Das Schiff bewegte sich einen Meter rückwärts. »Helft mir schnell, ihr kleinen Freunde!« flehte ich. »Die Zeit wird knapp!« Plötzlich fuhr peitschend ein großer Aal aus dem Wasser und zerrte an der Seite meines zerschundenen Beins. Ich fühlte die Zähne des zur Seite geneigten Kopfes an der Wade entlangschaben. Und schon fiel das Tier ins Wasser zurück. »Gut, gut!« rief ich. »Beinahe hättest du es geschafft! Versuch’s noch einmal, du großer Bursche!«
Ich beobachtete das Wasser, schaute zu, wie das Wesen im Wasser herumwirbelte und offenbar erneut das Ziel anpeilte. Mein linker Knöchel, den ich mir an der Hinterkante der Klinge absichtlich zerschnitten hatte, blutete – und dieses Blut sickerte in die verknoteten Seile meiner Fesseln. Mit dem geringen Spiel, das die engen Fesseln mir ließen, mußte ich auskommen. Beinahe zu schnell, um es wahrzunehmen, sah ich den Aal wieder aus dem Wasser springen. So gut wie möglich schob ich dem Tier meinen Knöchel hin. Dann schrie ich vor Schmerzen auf. Das Gewicht des peitschenden, reißenden Fisches mußte etwa zwanzig Pfund betragen haben. Das Tier war ungefähr sieben Fuß lang. Schreiend legte ich den Kopf in den Nacken. Mein linkes Fußgelenk steckte zwischen den Kiefern des Geschöpfes. Nadelscharfe Zähne bissen zu. Ich fürchtete schon den Fuß zu verlieren, doch die dicken Seile, die zum Teil doppelt verlegt und verknotet waren, schützten mich wie ein Faserschild und verhinderten, daß sich die Zähne zu tief in mein Fleisch gruben.
Wahrscheinlich von den hinderlichen Schnüren verwirrt, verlagerte das kleine Monstrum seinen Biß. Es begann an den Seilen zu ziehen. Es mußte das Maul voll haben mit blutdurchtränkten, drahtähnlichen Fesselfasern. Zweifellos spornte das Blut den Aal an, seine Bemühungen fortzusetzen. Der Schwanz peitschte das Wasser. An den Fesseln hängend, wand es sich hin und her. Dann fiel er mit fasergefülltem Maul ins Wasser zurück. Und wieder zerrte ich an meiner Fesselung, und wieder hielt sie. Und erneut gab ich, was ich an Kraft noch zu geben hatte, und hörte diesmal etwas reißen. Plötzlich waren meine Fußgelenke frei. Ich warf die Beine herum und schwang mich, an den Handfesseln hängend, auf und hinter die Klinge, wobei ich das rechte Bein über den oberen Teil der Klingenhalterung hob.
»Ho!« rief eine zornige Stimme rechts über mir. Ich sah, wie eine Speerspitze zum Wurf zurückgezogen wurde. Auf der flachen Halterung hockend, klammerte ich mich an der Klinge fest. Zwar waren meine Hände durch Fesseln verbunden, doch hatten sie etwa einen Fuß Spiel, da sie zuvor um die Klinge herum gebunden worden waren. Den heranzuckenden Speer ergriff ich hinter der Klinge und zerrte ihn ruckhaft in meine Richtung. Der Angreifer, der so schnell seine Waffe nicht loslassen konnte, wurde über die Reling gezerrt. Er prallte gegen die Klinge und glitt schreiend und schwerverletzt ins Wasser. Der Speerschaft wurde meinen Händen dabei entwunden. Unter der Klinge begann das Wasser zu brodeln. Luftblasen stiegen auf, die sich schnell rot färbten. »Freßt nur, kleine Freunde!« sagte ich. »Freßt und habt Dank!«
Policrates’ Flaggschiff bewegte sich nun ungehindert rückwärts auf den Fluß hinaus. Ich zog meine Handfessel vor die Schnittkante der Klinge und sägte hin und her. Plötzlich bliesen Hörner zum Kampf, Signale, die ich nicht verstand. Auf den Piers und der Hafenstraße machte ich Hunderte von Victorianern aus. Sie winkten und schwenkten Waffen. Vor ihnen lagen entkleidete, gefesselte Piraten.
Links von mir stand ein Schiff in Flammen – es war der Wendige Tharlarion, das Flaggschiff Voskjards. In der Nähe bohrte sich knirschend eine Ramme in eine Schiffswand. Dies ergab für mich keinen Sinn, denn die dicht zusammen manövrierenden Schiffe hätten, selbst aus Versehen, niemals genug Fahrt für einen solchen Rammstoß aufnehmen können.
Beißender Rauch machte sich bemerkbar. Ich klammerte mich an der Klinge fest. Policrates’ Flaggschiff wendete. Wieder ertönten Hörner – von beiden Seiten, flußaufwärts und flußabwärts. Und wieder bohrte sich eine Ramme vernichtend in das Holz eines Schiffes. Auf Piratengaleeren gab es Geschrei.
Von der Scherblatt-Halterung sprang ich auf die Backbordreling und zog mich hoch. Gleich darauf hockte ich geduckt auf Deck. Ein Schwertschwinger stürzte sich auf mich. Ich tauchte unter der Klinge hinweg, packte ihn an den Fußgelenken und nutzte seine Eigenbewegung dazu, ihn über die Schultern zu heben. Kreischend verschwand er über die Bordwand. Ein anderer Mann versuchte nach mir zu schlagen, doch ich glitt zur Seite aus, faßte ihn mit dem rechten Arm um die Brust und schleuderte ihn seitlich gegen die Wand des Vorderkastells. Ächzend sank er zu Boden.