Auf dem Vorderdeck über mir schrie Policrates Befehle. Ich bohrte das erbeutete Schwert in das Holz über mir, wo ich es jederzeit erreichen konnte. Dann setzte ich Füße und Hände in die kunstvollen Schnitzereien des Vorderkastells und stieg anderthalb Meter empor. Das Herz schlug mir bis in den Hals.
Auf dem Fluß wimmelte es von Schiffen! Ich sah die Tais unter dem Kommando des unermüdlichen Calliodorus, ich sah andere Schiffe aus Port Cos. Es mußte sich um Callisthenes’ alte Flotte handeln, die er nach Port Cos zurückverlegt hatte, damit sie nicht an den Kämpfen um die Kette teilnehmen konnte. Sie wurde verstärkt durch Schiffe aus Tafa, Ven, Tetrapoli und sogar aus dem fernen Turmus. Diese Schiffe waren aus dem Westen gekommen, gegen die Strömung.
An Steuerbord, flußaufwärts, war das Wasser gefüllt mit bewaffneten Handelsschiffen. Auch dort gewahrte ich die Farben von über einem Dutzend Städte. Die Banner und Wimpel von Victoria waren zur Stelle, von Fina und Hammerfest, von Sulport, Sais, Siba und Jasmine, von Jorts Fähre und Kap Alfred, von Iskander, von Tancreds Furt und Waldhafen. Neben anderen Fahnen sah ich Banner, die so weit aus dem Osten kamen wie Weißwasser und Lara, das am Zusammenfluß von Vosk und Olni lag. Die Geduld der ehrlichen Flußbewohner war endlich erschöpft.
Ich zog mein Schwert aus dem Holz und sprang auf das Deck zurück. Policrates’ Flaggschiff ruckte, von einem anderen Piratenschiff getroffen, zur Seite. Ich verlor das Gleichgewicht. Als ich mich wieder gefangen hatte, eilte ich unverzüglich auf die Backbordseite und sprang auf das andere Scherblatt hinab.
»Jason!« rief Callimachus, der dort angebunden hing.
Im Nu hatte ich die Fesseln durchgeschnitten, die seine Füße sicherten, und durchtrennte dann auch die Schnüre an seinen Händen, wobei ich ihn mit einem Arm festhielt. Zitternd zerrte er sich zur Klingenhalterung empor. »Du bist frei!« rief er. »Was geht hier vor?«
»Die Städte erheben sich«, antwortete ich. »Schiffe kommen aus Ost und West, von unten und oben am Fluß, kampfbereit. In den Herzen dieser Menschen lodert der Krieg. Policrates und Voskjard haben ausgespielt.«
»Gib mir ein Schwert!« forderte Callimachus.
»Bist du auch kräftig genug?« fragte ich. »Es gibt wirklich nicht mehr viel zu tun.«
»Ein Schwert!« forderte Callimachus. »Ich will ein Schwert!«
Ich grinste. »Sicher läßt sich an Bord eines finden.«
Kaum waren wir an Deck gestiegen, da glitt das an Backbord liegende Piratenschiff seitlich am Flaggschiff entlang. Die beiden Scherblätter verhakten sich, und wir hörten Holz reißen.
»Ruder rückwärts!« kreischte Policrates vom Bugkastell. Das Piratenschiff, das an Steuerbord lag, wurde geentert. Callimachus begab sich zu einem der Ruderer, der natürlich mit dem Gesicht zum Heck saß. Von hinten zugreifend, zog Callimachus dem Mann das Schwert aus der Scheide. Der Ruderer schaute zurück und warf sich sofort bleichen Gesichts über die Reling ins Wasser. Nun blickte Callimachus zur Höhe des Vorderkastells empor, und im gleichen Moment wurde er von Policrates entdeckt. Hinter dem Piraten stand Callisthenes. Zwei Männer hasteten den Niedergang herab auf Callimachus zu, während Callimachus und Callisthenes die Schwerter zogen. Beide Angreifer sanken zu Boden, und ich hatte kaum eine Bewegung des Schwertes wahrgenommen. Callimachus war im Umgang mit der Waffe nicht ungeschickt. Bleich starrten Policrates und Callisthenes auf das Hauptdeck herunter. »Ich stehe zu dir«, sagte ich. »Nein«, widersprach Callimachus. »Die beiden gehören mir.«
Ich sah ihn an. Er lächelte. »Hol Ragnar Voskjard«, sagte er. Grinsend wandte ich mich von ihm ab, und gleich darauf klirrten hinter mir die Schwerter.
Ich blickte über die Backbordreling. Etwa vierzig Meter entfernt, schon von der Flußströmung ergriffen, lag Ragnar Voskjards Schiff, das von Flammen eingehüllt zu werden drohte. Zwischen den Schiffen trieben so viele Wrackteile, daß man die Distanz beinahe zu Fuß hätte überwinden können. Wieder wurde zum Kampf geblasen. In der Nähe gellte Kampflärm auf, der mir verriet, daß wieder einmal ein Piratenschiff geentert worden war. Im Hafen lagen mindestens ein Dutzend brennender Schiffe.
Ich biß an der Lederumwicklung des Schwertgriffes herum, den ich in der Hand hielt, bekam eine Faser los und fertigte mir daraus eine primitive Handschlinge. Sollte ich im Wasser die Hände benutzen müssen, wollte ich nicht gleichzeitig die Waffe verlieren. Dann legte ich mir die Schlinge um das Handgelenk, packte die Waffe und sprang mit den Füßen voran ins Wasser. Ich schwamm zu einem Floß aus zerschmetterten Planken. Gefahr drohte von den Aalen im allgemeinen nur in den Untiefen rings um die Hafenanlagen.
Kaum war ich auf das Floß gestiegen, als ich eine mittelgroße Galeere näher kommen sah, die sich zwischen Policrates’ Flaggschiff und Ragnar Voskjards Wendigen Tharlarion schob. Am Heck flatterte das Banner von Tafa. Ich tauchte zur Backbordseite des Schiffes. Gleich darauf wurde ich von der Bugwelle ergriffen und auf den Wendigen Tharlarion zu geschoben. Wasser spuckend, den Kopf hebend, sah ich einen weiteren Schiffsumriß näher kommen. Ich schwamm auf den Wendigen Tharlarion zu. Der alles überdeckende Schatten schien in meine Richtung abzubiegen, und dann erkannte ich zu meinem Entsetzen, daß das Schiff die Absicht hatte, die Steuerbordruder des Wendigen Tharlarion abzuscheren. Plötzlich befand ich mich zwischen zwei Schiffen. Es gab ein knirschendes, knackendes Geräusch, das von brechenden Rudern herrührte. Ich streckte die Hand aus und berührte die bebende Bordwand des Wendigen Tharlarion. Das Scherblatt pflügte auf mich zu. Holz zerkratzend und zerreißend, Ruder zerbrechend, kämpfte sich die Klinge in meine Richtung. Ich tauchte unter das Schiff. Für einen Schwimmer geht die größte Gefahr übrigens nicht von der Klinge aus, denn deren untere Krümmung liegt in der Regel mindestens einen Fuß über dem Wasser, so daß man mühelos ausweichen kann. Man kann sich sogar zwischen die Klinge und das Schiff retten, an dem es befestigt ist. Die größte Gefahr liegt für den Schwimmer vielmehr in dem knirschenden Zusammenprall der Schiffsrümpfe hinter den Klingen. Nur wenige Kapitäne sind so geschickt, daß sie beim Scherkampf einen geraden, parallelen Kurs beibehalten können. Beide Schiffe sind in Bewegung, und die Winkel zueinander verändern sich ständig.
Aufblickend sah ich den langen schmalen Kiel des angreifenden Schiffes vorbeigleiten. Dann ertönte ein reißendes Brechen, als es die Steuerbordwand des Wendigen Tharlarion einschnitt. Der Angriff war in zu steilem Winkel erfolgt, woraufhin beide Schiffe knirschend zusammenstießen. Als ich das Licht freien Wassers zwischen ihnen ausmachte, kehrte ich an die Wasseroberfläche zurück, umgeben von Splittern und allerlei Treibgut. Aus dem angreifenden Schiff wurden Ruder herausgeschoben, um die andere Galeere auf Abstand zu bringen. Ich packte ein Ruder des Wendigen Tharlarion, das abgebrochen aus der Ruderpforte hing. An diesem Ruder kletterte ich empor, wobei mir das Schwert am Arm baumelte. Ich legte die Finger um den Rand der Ruderpforte und überzeugte mich, daß die Ruderbank drinnen verlassen war. Offenbar hatte die Besatzung des Wendigen Tharlarion das Schiff weitgehend verlassen.
Mit Hilfe des Ruders und der Pforte zerrte ich mich weiter hoch. Gleich darauf war ich über die Reling geglitten und stand auf dem Deck des Wendigen Tharlarion. Das Vorderkastell war verlassen. Die wenigen Männer, die sich noch an Deck aufhielten, griffen mich nicht an. Ich sah das attackierende Schiff rückwärts fahren, um wieder in Position zu gehen. Offenbar versuchte es den Rammsporn einzusetzen, um anschließend zu entern. Auf dem Achterkastell entdeckte ich die Gestalt eines Mannes, der damit beschäftigt war, Kapitänsinsignien von seiner Tunika zu reißen. Zwei Piraten retteten sich an Backbord ins Wasser. Ich eilte das Deck entlang und den Niedergang zum Achterkastell empor. Der Mann fuhr zu mir herum, die goldene Kapitänsschnur in der rechten Hand. »Sei gegrüßt, Ragnar Voskjard!« sagte ich zu ihm. »Ich bin gekommen, dich zu holen.«