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Christoph Lode

Der Letzte Traumwanderer

Pandæmonia

Buch

Liam Satander kann nicht glauben, dass sich sein Vater eine solche Nacht entgehen lässt. Ein Gewitter wütet über der Metropole Bradost, und Liam fängt einen Blitz nach dem anderen. Für Blitzsammler, wie er und sein Vater Fellyn es sind, ein lukratives Geschäft. Erst am nächsten Morgen kehrt Fellyn nach Hause zurück - doch die gefürchteten Spiegelmänner sind ihm auf den Fersen. Bevor er von ihnen ermordet wird, bittet er seinen Sohn, unter allen Umständen das Gelbe Buch von Yaro D’ar zu beschaffen. Liam versteht die Welt nicht mehr. Warum musste sein Vater sterben? Und was hat es mit diesem rätselhaften Buch auf sich? Entschlossen, Antworten zu finden, lässt er sich mit Hilfe des Erfinders Nestor Quindal in den Palast von Lady Sarka einschmuggeln. Ein wahnwitziges Unterfangen, denn die Herrscherin ist grausam und machtgierig. Leibwächter mit schrecklichen Kräften schützen sie. Krähen kreisen über der Stadt und spionieren ihre Untertanen aus. Gerade erst hat sie den jungen Schlammtaucher Jackon aufgenommen, dem man nachsagt, er könne die Träume anderer Menschen beeinflussen. Trotzdem verfolgt Liam unbeirrt sein Ziel. Dabei erhält er unerwartet Hilfe von Quindals eigensinniger Tochter Vivana. Doch was die beiden schließlich in den schattenhaften Fluren und Hallen entdecken, übertrifft selbst Liams schlimmste Erwartungen...

Autor

Christoph Lode, geboren 1977, ist in Hochspeyer bei Kaiserslautern aufgewachsen und lebt heute mit seiner Frau in Mannheim. Er studierte in Ludwigshafen am Rhein und arbeitete in einer psychiatrischen Klinik bei Heidelberg. Heute widmet er sich ganz dem Schreiben. Bisher ist er als Autor erfolgreicher historischer Romane bei Page & Turner in Erscheinung getreten. Nun hat er seine »phantastische« Seite entdeckt und legt mit »Pandæmonia« seine erste Fantasy-Trilogie bei Goldmann vor.

Außerdem von Christoph Lode lieferbar:

Der Gesandte des Papstes. Roman (46799)

Das Vermächtnis der Seherin. Roman (46798)

1

In den Kanälen

Überall Krähen.

Sie hockten auf Regentraufen und Mauervorsprüngen, auf Fenstersimsen und Kaminen, durchsuchten die Dachrinnen nach Ungeziefer, krächzten gelegentlich und spreizten dabei ihr schillerndes Gefieder. Schwarze Knopfaugen starrten in die Gasse hinab.

Jackon wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihn beobachteten.

Voller Unbehagen ging er die menschenleere Gasse mit ihren heruntergekommenen Fassaden, leer stehenden Stadthäusern und Torbögen voller Schutt entlang. Er konnte die durchdringenden Blicke der Krähen beinahe spüren, und jedes Mal, wenn er Flügelschlagen hörte, lief ihm ein Schauder über den Rücken.

Seit Tagen ging das so. Kaum verließ er die Kanäle, erwarteten ihn die schwarzen Vögel bereits, als folgten sie ihm auf Schritt und Tritt. Im Viertel hatte es schon immer Scharen von Krähen gegeben. Der Fischmarkt am Flussufer lockte sie an und der Bettlerfriedhof, wo nur eine dünne Erdschicht die Toten bedeckte. Doch normalerweise verhielten sie sich nicht so merkwürdig.

Seine Hand schloss sich um den Stein in seiner Hosentasche.

Er dachte an die Geschichten, die man sich in den Kanälen erzählte. Lady Sarka kann durch ihre Augen sehen, sagten die Schlammtaucher. Töte nie eine Krähe, sonst holen dich die Spiegelmänner, und du verschwindest auf Nimmerwiedersehen in ihrem Kerker unter dem Ministerium der Wahrheit. Die Bewohner der Kanäle erzählten ständig solche Dinge, und Jackon hatte nie viel auf ihr Gerede gegeben. Inzwischen war er sich jedoch nicht mehr so sicher.

Einige Schritte vor ihm landete eine Krähe. Aus einer Ritze im Kopfsteinpflaster zog sie einen Regenwurm, der sich in ihrem Schnabel wand, bevor sie ihn verschlang. Dann blickte sie Jackon an, die Augen von einer beinahe menschlichen Intelligenz erfüllt.

»Haut endlich ab!«, rief er.

Der Vogel flatterte auf und ließ sich auf einem Erker nieder, gefolgt von einigen Artgenossen. Jackon warf seinen Stein, der von einem vernagelten Fenster abprallte. Zwei Krähen flogen davon, doch die anderen rührten sich nicht vom Fleck. Ihr Gekrächze klang spöttisch.

Jackon ergriff die Flucht.

So schnell er konnte, rannte er durch die verlassenen Straßen, sprang über eingestürzte Mauern und hetzte durch dunkle Hinterhöfe, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Erst als er den Platz vor der Alten Glasbläserei erreichte, machte er langsamer. Während er Atem schöpfte, blickte er zu den Dächern auf.

Keine Krähen zu sehen. Er hatte sie abgehängt. Wenigstens vorläufig.

Es war ein heißer Tag, und sein Spurt trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Er schlurfte zu einer Nische zwischen zwei verfallenen Häusern, wo frisches Wasser aus einem rostigen Rohr sprudelte, in ein zerbrochenes Steinbecken plätscherte und sich von dort aus auf das Pflaster ergoss. Fliegen schwirrten über der Pfütze. Jackon legte seinen Beutel ab, wusch sich das Gesicht und löschte seinen Durst. Er genoss jeden Schluck, denn sauberes Wasser war in den Kanälen schwer zu bekommen. Anschließend konnte er wieder klar denken - und kam sich wie ein Narr vor. Jetzt fürchtete er sich schon vor ein paar Krähen. Hatte er nicht bereits genug Sorgen? Dies war die Grambeuge und er nur ein kleiner Schlammtaucher, dessen Leben noch weniger zählte als das eines Bettlers. Er täte gut daran, die Augen offen zu halten, damit man ihm nicht seine Sachen stahl, bevor er sie verkaufen konnte. Es wäre nicht das erste Mal.

Als hätte er sie mit seiner Wachsamkeit heraufbeschworen, erschienen Gesichter in den Durchgängen der Arkaden, die den kleinen Platz umgaben. Manche der verfallenen Häuser waren bewohnt, von Huren, Opiumsüchtigen, Tagelöhnern und Halsabschneidern. Hastig nahm er seinen Beutel an sich und eilte zur Alten Glasbläserei, lief die Rampe zum Gewölbekeller hinab und war erleichtert, als die Schatten ihn vor den feindseligen Blicken verbargen.

Es sah so aus, als wäre er der letzte Schlammtaucher, der heute Abend eintraf. Die anderen saßen und standen bereits allein oder in kleinen Gruppen herum und warteten auf Asher und dessen Kumpane. Niemand beachtete ihn. Jackon hatte nichts dagegen. Selbst unter Seinesgleichen war er bestenfalls geduldet, weshalb er sich von den zerlumpten Männern und Frauen fernhielt und sich in einem Winkel niederließ, wo er keine Aufmerksamkeit erregte. Nur schnell die Funde des Tages verkaufen und wieder verschwinden, bevor es Ärger gab - so lebte es sich am ungefährlichsten.

Rostige Ketten hingen von der Gewölbedecke. Es roch nach Asche und alter Schlacke. Enge Rampen führten zu den oberen Stockwerken des leer stehenden Gebäudes; Schutt türmte sich in eingestürzten Kellergängen auf, schwarze Schächte gähnten zwischen den Pfeilern aus brüchigen Ziegelsteinen. Fackeln verströmten flackerndes Licht. Als Asher und seine beiden Handlanger hereinkamen, wuchsen ihre Schatten an den Wänden empor, bis sie die wartenden Schlammtaucher wie riesenhafte Dämonen überragten.

Genau das sind sie, dachte Jackon verdrießlich. Drei hässliche, stinkende, nimmersatte Dämonen.

Asher setzte sich; sein goldener Ohrring baumelte glitzernd hin und her. Während er in aller Seelenruhe seinen Becher mit Ale füllte, bildeten die Wartenden eine Schlange vor seinem Tisch. Jackon versuchte gar nicht erst, nach vorne zu gelangen. Mit seinen fünfzehn Jahren war er der jüngste, kleinste und schwächste Schlammtaucher. Hätte er sich vorgedrängelt, hätten die anderen ihn verprügelt oder, schlimmer noch, fortgejagt. Also nahm er das Unvermeidliche hin und stand ganz am Ende der Schlange.