»Du fragst dich vermutlich, woher ich all dies weiß«, sagte die Lady. »Nun, ich bin die Herrscherin von Bradost. In meiner Stadt geschieht nichts, ohne dass ich davon erfahre. Hast du die Krähen auf den Dächern meines Hauses bemerkt? Tag und Nacht kreisen sie über den Straßen und berichten Corvas, was sie gesehen haben. Sie sind meine Späher. Ihnen entgeht nichts.«
»Sie haben mich beobachtet«, ächzte er.
»Ja.«
Also hatte er es sich nicht eingebildet. All die Geschichten über die Lady, die in den Kanälen die Runde machten - sie entsprachen der Wahrheit.
Er nahm seinen Mut zusammen. »Warum?«, brachte er hervor. »Ich habe nichts getan.«
Lady Sarka ließ ein glockenhelles Lachen erklingen. »Natürlich nicht. Glaubst du etwa, ich ließ dich holen, um dich zu bestrafen? Nein, Jackon. Du bist hier, weil ich dich um etwas bitten möchte.«
»Um etwas bitten?«, wiederholte er verwirrt.
»Ja. Denn du besitzt etwas, das von großem Nutzen für mich ist.«
Jackon runzelte die Stirn. Die Lady musste sich irren. Er besaß gar nichts. Nur ein bisschen Plunder... den Darren außerdem in den Kanal geworfen hatte.
»Du hast eine Gabe«, sagte sie.
Seine Verwirrung wuchs. Gabe... Er hatte dieses Wort schon einmal gehört, aber er besaß bestenfalls eine vage Vorstellung davon, was es bedeutete.
»Manchmal wird ein Mensch geboren, der größer ist als andere«, erklärte Lady Sarka. »Der über Kräfte verfügt, die ihm Macht verleihen. Früher, als die Magie noch stark war, gab es viele solcher Menschen. Heute sind sie selten geworden. Du bist einer von ihnen. Deshalb habe ich nach dir gesucht.«
Magie? Kräfte? Er verstand kein Wort.
»Corvas kann die Gestalt einer Krähe annehmen«, fuhr sie fort. »Umbra beherrscht die Schatten. Und du - du bist ein Traumwanderer.«
»Was ist das?«
Sie blickte ihn mit ihren eisblauen Augen an. »Warum haben dich die Schlammtaucher aus ihrer Gemeinschaft verstoßen, Jackon? Wieso hat man dich gezwungen, weit entfernt von ihren Höhlen zu leben?«
»Weil sie Angst vor mir haben. Weil sie sagen, ich würde mich nachts in ihren Träumen herumtreiben.«
»Ja. Genau das hast du getan.«
»Aber... so etwas gibt es doch gar nicht!«
»Ach nein? Dann gibt es wohl auch keine Menschen, die sich in Krähen verwandeln können.«
Jackon spürte, wie ihm schwindelig wurde. All die Jahre hatte er geglaubt, es sei blanker Unsinn, was Darren und die Schlammtaucher ihm nachsagten. Und jetzt behauptete Lady Sarka, es sei die Wahrheit?
»Ich glaube Euch nicht«, stieß er mit schwacher Stimme hervor.
»Das solltest du aber. Du schadest dir, wenn du noch länger gegen deine Gabe ankämpfst.«
»Aber... aber wenn es stimmt und ich wirklich etwas mit den Träumen von anderen Leuten mache - wieso kann ich mich nicht daran erinnern?«
»Weil du nie gelernt hast, deine Kräfte zu kontrollieren. Was du tust, erscheint dir am nächsten Morgen wie ein gewöhnlicher Traum. Meistens ist es das auch, aber eben nicht immer.«
Jackon konnte sich so gut wie nie an seine Träume erinnern. Sie verblassten gleich nach dem Aufwachen, und ein paar Stunden später waren nur noch einzelne Bilder übrig, verschwommen und ohne Zusammenhang. Hatte er oft von Darren oder anderen Bewohnern der Kanäle geträumt? Und hatte er sie jedes Mal, wenn er es tat, im Schlaf heimgesucht? Eine Stimme tief in seinem Innern sagte ihm, dass es genauso gewesen war - so schwer es ihm fiel, das zu glauben. Er schauderte.
»Verstehst du jetzt, was ich meine?«, fragte Lady Sarka sanft.
Jackon blickte sie hilflos an. »Aber was ist daran so nützlich? Es sind doch nur Träume.«
»Träume haben Macht. Träume prägen unsere Gedanken und Wünsche, sie bestimmen, ob wir glücklich sind oder nicht. Wer die Träume beherrscht, beherrscht auch die Menschen.«
»Und ich... kann all das?«
»Nein. Noch nicht. Aber mit meiner Hilfe wirst du es lernen.«
Es dauerte eine Weile, bis er begriff, was ihre Worte bedeuteten. »Ich soll hierbleiben? Bei Euch?«
»Wäre das so schlimm?«, fragte sie behutsam. »Du würdest eine eigene Kammer bekommen, so schön wie die bei Wellcott und Kendrick, mit einem Bett und einem Schrank voller Kleider. Wenn du krank wirst, kümmert sich mein Arzt um dich. Und es gibt genug zu essen, jeden Tag. Nie wieder müsstest du betteln und stehlen gehen oder Unrat aus der Kloake fischen.«
Er gab keine Antwort. Er war kaum noch in der Lage, klar zu denken.
»Im Gegenzug dienst du mir mit deinen Kräften, so wie Corvas und Umbra«, fuhr Lady Sarka fort. »Ich bilde dich aus, bis du so mächtig bist wie sie. Aber ich werde dich nicht dazu zwingen. Du sollst dich aus freien Stücken dazu entscheiden.«
»Und wenn ich nicht will?«, fragte er vorsichtig.
»Lasse ich dich auf der Stelle gehen, und du kannst noch heute in die Kanäle zurückkehren. Doch was erwartet dich dort? Ein Dasein in Hunger und Schmutz. Vogelfreie und Mörder, die dich hassen. Menschenf ressende Ghule und die Cholera. Die Aussicht auf einen frühen Tod. Ziehst du das wirklich einem Leben in meinen Diensten vor?«
Noch in der Kutsche hätte er diese Frage prompt mit Ja beantwortet, aber jetzt war er sich auf einmal nicht mehr so sicher. Er dachte an die vergangenen neunzehn Tage, an die Behaglichkeit des Hauses, das bequeme Bett und das gute Essen. Er hatte angefangen, sich daran zu gewöhnen, trotz der quälenden Langeweile und der Tatsache, dass das Haus letztlich ein Gefängnis gewesen war. Er wusste, wenn er wirklich in die Kanäle zurückkehrte, würde er sich jede Nacht, wenn er auf seinen Strohsäcken lag, und jedes Mal, wenn er steinhartes Brot kaute, daran erinnern, was er aufgegeben hatte.
Wenn er sich nur nicht so sehr vor alldem fürchten würde, vor dem Palast mit seinen menschenleeren Fluren, vor Corvas, den Spiegelmännern und vor Lady Sarka selbst...
»Was ist schon ein bisschen Angst?«, fragte die Lady, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Angst vergeht. Denk daran, was du gewinnst: ein Leben, wie du es dir immer erträumt hast.« Ihre Stimme wurde leise und eindringlich, und ihm war, als erklinge sie im Innern seines Kopfes, wo sie all seine Gedanken übertönte. »Also, Jackon - willst du mir dienen? Willst du so mächtig werden wie Corvas?«
Jackon schluckte. In seinem Kopf drehte sich alles. »Ja«, hörte er sich schließlich sagen. »Ich will Euch dienen, so gut ich kann.«
Über der Kuppel krächzte eine Krähe, und es klang wie Triumphgeschrei.
5
Spiegelmänner
Das Knarren einer Tür weckte Liam. Verschlafen wälzte er sich herum und zog den Vorhang auf. Draußen war es bereits hell und das Viertel längst erwacht. Stimmen und das Klappern, Hämmern und Sägen der Werkstätten Scotias klangen zur Sternwarte herauf.
Normalerweise schlief Liam nicht so lang. Wegen des Gewitters war er jedoch erst spät ins Bett gekommen. Inzwischen blitzte und donnerte es nicht mehr: Der Himmel über Bradost war blau und versprach einen weiteren heißen Tag. Die Morgenluft roch dank des Regens sauber und frisch.
Als er Geräusche aus dem Eingangsraum hörte, schlüpfte er hastig in Hose und Hemd und öffnete die Tür seiner Kammer. »Vater?«
Fellyn Satander stand hinter dem Tisch und wühlte in den Papieren. Anders als Liam hatte er dunkles Haar; es wirkte ungekämmt und fettig. Bartstoppeln bedeckten seine Wangen, seine Kleidung war zerknittert. Er blickte seinen Sohn aus müden Augen an. »Morgen, Liam«, murmelte er und setzte seine Suche fort.
»Bist du etwa jetzt erst nach Hause gekommen?«
»Ja. Hatte zu tun.«
»Was denn?«
»Dies und das.«
»Und das Gewitter?«, fragte Liam.
»Oh«, meinte sein Vater geistesabwesend. »War recht heftig, was?«