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Liams Kopf ruckte zurück, als er für den Bruchteil einer Sekunde seine Augen in der Spiegelmaske sah. Er duckte sich, vergrub das Gesicht zwischen den Knien, machte sich so klein wie möglich. Geh weg, dachte er und hielt den Atem an. Bitte geh weg.

Etwas strich über das Mauerwerk, vielleicht die Hand des Spiegelmanns. Wer immer für den Bau der Geheimkammer verantwortlich gewesen war, hatte die Klappe so geschickt in die Wand eingefügt, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkennen konnte. Deshalb hatten Liams Eltern das Versteck erst Jahre nach dem Kauf der Sternwarte entdeckt. Liam hoffte inständig, dass der Spiegelmann darauf hereinfiel - und nicht durch Zufall auf den Stein drückte, der die Klappe öffnete.

»Halt«, sagte sein Vater in diesem Augenblick. »Das sind meine Geschäftsbücher. Sei gefälligst vorsichtig damit.«

Stoff raschelte, als der Spiegelmann aufstand; dann erklangen Schritte. Liam riskierte einen Blick durch den Mauerschlitz. Der Spiegelmann ging zu seinem Vater, der versuchte, dem anderen Schwarzgekleideten eine ledergebundene Kladde wegzunehmen. Der Maskierte schob Liams Vater vom Tisch weg, damit sein Kumpan das Buch an sich nehmen konnte.

Erleichtert atmete Liam auf. Danke, Vater. Die Kladde war vollkommen wertlos; sie enthielt Zahlen aus dem vorletzten Jahr. Sein Vater hatte den Spiegelmann lediglich von seinem Versteck weglocken wollen.

Mit Erfolg - der Spiegelmann kehrte nicht zur Geheimtür zurück. Corvas wies ihn an, das Obergeschoss zu durchsuchen.

»Etwas gefunden?«, fragte der Bleiche, als sein Handlanger wenig später zurückkehrte.

Der Maskierte schüttelte kaum merklich den Kopf.

Corvas ging daraufhin zur Tür. »Mitkommen, Satander«, befahl er.

Liams Vater rührte sich nicht von der Stelle. »Nein.«

Das Oberhaupt der Geheimpolizei blickte ihn mit stechenden Augen an. »Widersetzt du dich uns?«

»Ich will wissen, wohin ihr mich bringt.«

»Ergreift ihn«, sagte Corvas.

Als die Spiegelmänner auf ihn zukamen, wich Liams Vater in die Ecke zurück. »Nicht!«, ächzte Liam, doch da riss sein Vater bereits die Decke zurück und griff nach dem Blitzwerfer. Er schrie und richtete die Waffe auf Corvas. Knisternde Elektrizität bündelte sich in der Kupferspirale. Einer der Spiegelmänner stürzte sich auf ihn, er taumelte gegen die Wand. Der Blitz entlud sich und schlug krachend in die Zimmerdecke ein. Die Spiegelmänner wurden zu Boden geschleudert, ihr Anführer warf sich hinter dem Tisch in Deckung. Papiere wirbelten durch die Luft, Rauch und Staub füllten den Raum, und Liam beobachtete voller Entsetzen, wie Corvas ein Messer zückte. Sein Vater ließ den Blitzwerfer fallen und hastete zur Treppe. Corvas sprang auf und warf die Klinge. Liams Vater brach mit einem Keuchen zusammen.

Liam unterdrückte einen Schrei. Bitte, Vater, steh auf, flehte er. Steh auf! Beinahe hätte er die Klappe geöffnet und wäre nach draußen gestürzt.

Die Spiegelmänner erhoben sich benommen, die Kutten voller Staub. Corvas schritt über die verstreuten Papiere und drehte Liams Vater mit dem Fuß auf den Rücken. Blut rann aus Fellyns Mundwinkel. Aus seinem Hals ragte der Messerschaft.

Liam musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu schluchzen. Sein Vater war nicht tot - er konnte nicht tot sein. Das war undenkbar. Unmöglich. Eben hatte er doch noch gesprochen, sich bewegt, um sein Leben gekämpft.

»Versiegelt das Haus und holt heute Nacht die Leiche«, befahl Corvas, bevor er und die Spiegelmänner die Sternwarte verließen.

Die Tür fiel ins Schloss. Liam blieb allein in der Dunkelheit zurück und begann zu weinen.

6

Umbra

Jackon wachte auf und blinzelte gegen das Sonnenlicht, das ihn im Gesicht kitzelte. Dies war nicht sein Zimmer im Haus der stummen Zwillinge - dort schien die Sonne nie so hell herein. Wo war er dann?

Er setzte sich auf und kratzte sich am Hinterkopf. Im Palast, richtig. Allmählich fiel ihm alles wieder ein. Umbra, die Frau aus der Kutsche, hatte ihn nach seiner Begegnung mit Lady Sarka zum Gesindeflügel geführt, zu der Kammer, in der er fortan wohnen würde. Die Lady hatte ihm nicht zu viel versprochen: Seine Unterkunft war geräumig und behaglich und enthielt einen Waschzuber, einen Schrank voll mit neuen Kleidern und ein überaus bequemes Bett.

Trotzdem hatte er nicht sonderlich gut geschlafen. Es gab einfach zu viele Dinge, über die er hatte nachdenken müssen. Er war ein Traumwanderer - allmächtiger Tessarion! Und als wäre das nicht bereits genug, diente er außerdem von nun an der Herrscherin von Bradost. Kein Wunder, dass seine Nacht unruhig gewesen war.

Jackon wusch sich und zog sich an, wobei es ihm nicht leichtfiel, unter den vielen Kleidern eine Wahl zu treffen. Er entschied sich schließlich für eine schlichte Hose und ein einfaches Wams, dazu Halbstiefel. Anschließend setzte er sich ans offene Fenster und machte sich über das frische Obst auf dem Tisch her.

Er konnte sich nicht erinnern, ob er jemals einen so schönen Morgen erlebt hatte. Die Sonne schien durch die Bäume im Palastgarten. Vögel zwitscherten, Erde und Gras rochen feucht vom Regen der vergangenen Nacht. Die Früchte schmeckten saftig und honigsüß, und er konnte essen, bis er satt war. Jackon überlegte, wie der Morgen ausgesehen hätte, wenn er in die Kanäle zurückgegangen wäre: quälender Hunger, aber kein Geld für Essen; stumpfsinniges Warten bei den Netzen, in der Hoffnung auf ein paar Knochen oder Leinenreste; ständige Furcht vor Darren oder den Ghulen; Kälte und verpestete Luft, überall Schmutz, Ratten und Ungeziefer.

Wie hatte er nur je in Erwägung ziehen können, das Angebot von Lady Sarka auszuschlagen?

Nein, er hatte sich richtig entschieden. Er konnte sich zwar nicht im Geringsten vorstellen, wie es sein würde, ihr zu dienen, aber schlimmer als sein bisheriges Leben konnte es nicht werden.

Zumal Lady Sarka ganz anders war, als er immer gedacht hatte. Sie herrsche mit eiserner Hand über die Stadt und verfolge ihre Feinde erbarmungslos, sagten die Schlammtaucher und die Bewohner des Hafenviertels. Ihm jedoch hatte sie nichts als Freundlichkeit entgegengebracht. War sie womöglich gar nicht so grausam, wie man sich überall erzählte?

Irgendwann tauchte Umbra auf. Anders als in der Nacht trug sie ein schlichtes schwarzes Gewand und ging barfuß. Die Schatten unter ihren Augen waren verschwunden. Sie führte ihn im Palast herum, zeigte ihm Flure, Kammern, Säle und erklärte ihm das eine oder andere. Dabei behandelte sie ihn nicht viel freundlicher als gestern in der Kutsche. Trotzdem war Jackon froh, dass sie es war, die ihm den Palast zeigte - und nicht der furchterregende Corvas.

Bei Tag, wenn warmes Licht durch die Fenster fiel und die Schatten von Baumkronen und Büschen auf die getäfelten Wände zeichnete, wirkte das Anwesen nicht mehr ganz so unheimlich. Der Eindruck eines nahezu verlassenen Gebäudes blieb jedoch: Während sie durch die stillen Korridore gingen, begegnete ihnen keine Menschenseele.

»Warum stehen so viele Zimmer leer?«, erkundigte sich Jackon, als sie an einem Erker vorbeikamen, in dem Staub auf den alten Möbeln lag.

»Weil die Leute, die darin wohnten, tot sind«, erwiderte Umbra mürrisch.

»Tot?«

»Gestorben. Den Weg alles Irdischen gegangen. Was verstehst du daran nicht?«

»Wurden sie umgebracht?«, fragte er schaudernd.

Umbra seufzte. »Die Sarkas waren einst eine der größten Familien der Stadt. Deshalb die vielen Zimmer. Aber das ist Jahrzehnte her; inzwischen ist die Herrin die einzige lebende Sarka. Das ist das ganze Geheimnis.«