»Also wohnt sie hier allein mit den Spiegelmännern?«
»Es gibt fünf Bedienstete. Abgesehen von Corvas, Amander und mir natürlich.«
»Amander?«
»Geduld. Du lernst ihn schon noch kennen.«
Sie stiegen eine enge Wendeltreppe hinauf und gelangten in einen anderen Trakt. Jackon gewann allmählich den Eindruck, dass der Palast im Innern größer sein musste, als er von außen wirkte. Er fragte sich, wie er sich in den verwinkelten und verschachtelten Korridoren und Räumen jemals zurechtfinden sollte.
»Wohin gehen wir jetzt?«
»Wart’s ab.«
Eingeschüchtert von ihrer Ruppigkeit hielt er eine Weile den Mund. Kurz darauf durchquerten sie auf einer hölzernen Galerie einen Raum, der sich über zwei Stockwerke erstreckte. Trübes Licht fiel durch die blinden Bleiglasfenster. Rostige Rohre verliefen zwischen einem großen Ofen und dem Kamin. Auf einem Steintisch stand eine komplizierte Vorrichtung aus Schläuchen, Messingzylindern, gläsernen Röhren, Trichtern und Flaschen, alles von einer dicken Staubschicht bedeckt. Jackon blieb auf der Galerie stehen und betrachtete fasziniert die seltsame Apparatur. »Was ist das?«
»Sag bloß, du hast noch nie ein alchymistisches Labor gesehen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Bei allen Dämonen, dir muss man wirklich alles erklären, was? Warum musste uns die Herrin ausgerechnet eine Kanalratte aufhalsen?«
»Ich bin keine Kanalratte«, erwiderte er beleidigt.
»Doch, bist du. Also gut, hör zu. Die Sarkas waren eine Familie von Alchymisten...«
»Wie die Trankmischer im Chymischen Weg?«
»Nein. Richtige Alchymisten. Keine Quacksalber und Wunderheiler. Das da unten ist eine alchymistische Küche mit dem Athanor und verschiedenen Destillierkolben, Retorten und Kupellen. Es gibt noch zwei weitere im Palast, aber die Herrin benutzt sie nicht mehr. Sie hat ihr eigenes Labor tief unter dem großen Saal.«
»Sie ist auch eine Alchymistin?«
»Vielleicht die größte, die je gelebt hat. Können wir jetzt weiter?«
Sie verließen die staubige Küche und folgten einem Flur, der Jackon bekannt vorkam. Der Gang führte an mehreren Fenstern vorbei zu einer Treppe, vor der zwei Spiegelmänner Wache standen. Ihre Masken gleißten im Sonnenlicht.
»Hier geht es zum Saal mit den Gemächern der Herrin«, erklärte Umbra. »Du darfst ihn nur betreten, wenn die Herrin dich einlädt, so wie gestern Nacht. Niemals eigenmächtig, hast du verstanden?«
Jackon nickte. Unbehagen erfüllte ihn beim Anblick der beiden schwarzgekleideten Gestalten.
»Unheimliche Kerle, was?«, sagte Umbra leise. »Wenn ich dir einen Rat geben darf: Halte dich von ihnen fern. Niemand weiß, was hinter ihren Masken vorgeht. Und sie gehorchen ausschließlich der Herrin und Corvas.«
»Dir nicht?«
»Ich habe nichts mit ihnen am Hut. Komm, es wird Zeit, dass wir zu Amander gehen.«
Sie kehrten um, und Jackon erschien es, als sei Umbra genauso froh wie er, den Gang mit den Spiegelmännern zu verlassen.
Wenig später betraten sie einen halbdunklen Salon, in dem mehrere Tische, Sessel und eine Vitrine mit Gläsern und Flaschen standen. Es roch nach Tabakrauch. In einem Lehnstuhl mit abgewetztem Polster, die Füße auf dem Tisch, lümmelte sich ein Mann in Wildlederhosen und einem altmodischen Rüschenhemd. Er hatte eine wallende schwarze Mähne und trug eine gelangweilte Miene zur Schau; seine Hände steckten in weißen Handschuhen. Er streichelte eine Ratte.
»Darf ich vorstellen: Amander«, sagte Umbra.
»Ist das der Junge?«, fragte der Mann im Ohrensessel ohne großes Interesse.
»Ja. Und du wirst ihn anständig behandeln. Befehl der Herrin, kapiert?«
»Spiel dich nicht so auf«, erwiderte Amander und räkelte sich. »Wo steckt eigentlich die alte Krähe? Ich warte hier seit einer Stunde.«
»Er ist vor Tagesanbruch verschwunden. Irgendeine Sache in Scotia.«
»Wann kommt er zurück?«
»Woher soll ich das wissen?« Umbra wandte sich wieder an Jackon. »Corvas und ich sind für die Sicherheit der Herrin verantwortlich. Amanders Aufgaben sind... spezieller Natur.«
»Soll ich es ihm zeigen?«, fragte der Schwarzhaarige.
»Tu, was du nicht lassen kannst«, erwiderte Umbra unfreundlich.
Amander streifte einen Handschuh ab und strich der Ratte mit Zeige- und Mittelfinger über das Fell. Das Tier zuckte und starb in seiner Hand. Grüner Schaum quoll aus dem kleinen Maul. Amanders Lippen formten ein dünnes Lächeln.
»Alles, was er mit bloßen Händen berührt, verwandelt sich in Gift«, erklärte Umbra.
Jackon schluckte und wandte hastig den Blick ab. Als sie den Saal verließen, fragte er leise: »Heißt das, er tötet Menschen?«
»Wenn es sein muss.«
Ihm fielen die Gerüchte wieder ein, die er gehört hatte, Geschichten von Leuten, die spurlos verschwunden waren, nachdem sie sich Lady Sarka widersetzt hatten. Er schauderte.
»Das gefällt dir nicht, richtig?«, meinte Umbra.
»Es ist falsch, jemanden umzubringen«, sagte er und erwartete, Umbra würde sich deswegen über ihn lustig machen. Umso überraschter war er, als sie ihm zustimmte:
»Ja, das ist es. Aber manchmal bleibt der Herrin keine andere Wahl. Wer herrscht, hat Feinde.«
»Muss man sie deswegen gleich töten?«
»Lady Sarka ist für das Wohl unzähliger Menschen verantwortlich. Was, wenn jemand danach trachtet, die Stadt ins Chaos zu stürzen? Würdest du an ihrer Stelle nicht auch versuchen, das mit allen Mitteln zu verhindern?«
»Natürlich.«
»Siehst du? Zuweilen muss ein Herrscher ein Leben opfern, um viele zu retten. So ist das nun mal. Deine Schlammtaucherfreunde und die Leute auf den Straßen mögen das anders sehen, aber sie müssen den Laden auch nicht am Laufen halten.«
Jackon schwieg nachdenklich. So hatte er das noch nie betrachtet.
Sie stiegen Treppen hinab und gingen Flure entlang. Nach einer Weile fragte er: »Lady Sarka hat gesagt, du würdest die Schatten beherrschen. Was bedeutet das?«
Umbra schnaubte unwillig. »Du gehst mir allmählich auf die Nerven mit deinen Fragen, Junge.«
»Sagst du mir wenigstens, was einmal meine Aufgabe sein wird? In den Diensten der Lady, meine ich. Als Traumwanderer.«
»Noch bist du keiner. Und bis es so weit ist, hat die Herrin andere Aufgaben für dich.«
»Welche denn?«
»Gartenarbeit.«
Jackon blieb abrupt stehen. »Gartenarbeit?«
»Für deine Ausbildung brauchst du gesunden, tiefen Schlaf. Aber den bekommst du nicht, wenn du den ganzen Tag auf der faulen Haut liegst. Jetzt glotz mich nicht so an; ich habe mir das nicht ausgedacht. Da entlang, wenn ich bitten darf. Der Gärtner erwartet dich bereits.«
Einigermaßen verwirrt folgte er Umbra durch einen Nebenflügel nach draußen. Als er sich die Nacht über gefragt hatte, was die Lady wohl von ihm verlangen würde, wenn er in ihren Diensten stand, hatte er mit allem gerechnet - aber gewiss nicht damit, Unkraut zu jäten und Beete umzugraben.
»Es gibt ein paar Regeln für dich, also hör gut zu«, fuhr Umbra fort. »Erstens, solange deine Ausbildung nicht abgeschlossen ist, wirst du wie ein gewöhnlicher Diener behandelt. Das heißt, du wohnst im Gesindetrakt, isst mit den anderen Bediensteten und bekommst den gleichen Lohn. Wenn man dich fragt, warum du hier bist, sagst du, du warst vorher Erntehelfer bei einem Plantagenbesitzer, und die Herrin hat dich holen lassen, damit du für sie arbeitest. Hast du das verstanden?«
»Ja«, sagte Jackon.
»Zweitens, du sprichst mit niemandem über deine Gabe, auch nicht mit den Bediensteten im Palast. Nur mit der Herrin und mir, klar? Niemand darf wissen, dass du hier bist.«
»Warum nicht?«
»Drittens«, knurrte Umbra, »du hörst auf, mich zu löchern.«