Im Schatten des Palasts folgten sie einem Pfad aus verwitterten Steinplatten. Der Garten stellte eine kleine Insel inmitten der Altstadt dar, umgeben von einer Mauer mit rostigen Dornen auf der Krone. Efeu rankte sich an steinernen Mantikoren und Harpyien empor. Fliederblüten schwebten durch die laue Luft, Kirschbäume krümmten sich unter der Last ihrer eigenen Größe wie bucklige Greise. Obwohl es fast Mittag war, verloren sich weite Teile des Gartens in grünlichem Zwielicht, als läge eine Glocke aus ewiger Dämmerung über dem Anwesen, gegen die selbst die wärmsten Sonnenstrahlen nichts ausrichten konnten.
Sie durchquerten einen kleinen Hain aus Apfelbäumen und kamen zu einer Buchsbaumhecke, die sich mannshoch über die gesamte Wiese erstreckte. Verschlungene Pfade führten ins Innere, begrenzt von undurchdringlichen Wänden aus Ästen, Zweigen und Blättern. Jackon konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Die Hecke bildete ein Labyrinth, ähnlich den Tunneln unter der Grambeuge. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Umbra blieb vor einem der Eingänge des Irrgartens stehen. »Der Gärtner heißt Ibbott Hume«, erklärte sie. »Von nun an arbeitest du für ihn, also tu, was er sagt.«
»Aber ich verstehe nichts von Gartenarbeit«, erwiderte Jackon.
»Man muss nicht gerade ein Genie sein, um den Rasen zu mähen. Jetzt geh schon.«
Der Gärtner schien sich irgendwo im Innern des Labyrinths aufzuhalten - Jackon konnte das Klappern einer Heckenschere hören. Als er gerade durch den Eingang treten wollte, fiel ihm noch etwas ein. Er wandte sich um.
»Wie viel Lohn bekomme...« Jackon verstummte.
Umbra war verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
7
Abschied
Liam wusste nicht, wie lange er bereits neben seinem Vater saß. Stunden, vielleicht Tage. Die Zeit hatte jede Bedeutung für ihn verloren. Von fern erklang das geschäftige Treiben Scotias. Das Licht der Abendsonne sickerte durch die Fensterläden, warm und golden und viel zu schön für diesen Tag.
Seine Tränen waren längst versiegt. Er kauerte auf dem Steinboden, die Hände zu Fäusten geballt, und betrachtete das vertraute Gesicht und die Augen, die ins Nichts starrten. Manchmal erschien ihm der Anblick seltsam unwirklich, und er fragte sich, ob er all das nur träumte. Ja, dachte er dann, natürlich; es muss ein Traum sein. Spiegelmänner, die plötzlich auftauchen und Vater ermorden - einfach lächerlich. In solchen Momenten überkam ihn jähe Euphorie, und er rechnete damit, wie jeden Morgen in seinem Bett aufzuwachen, geweckt von den Geräuschen seines Vaters, der seit Sonnenaufgang in der Sternwarte werkelte.
Doch er wachte nicht auf. Wie er hier saß, neben der Leiche und all dem Blut, das war kein Traum. Er ist tot. Er wird nie wieder aufstehen, lachen, Blitze fangen. Und immer, wenn Liam das dachte, wich die Euphorie einer alles verzehrenden Leere, woraufhin er sich noch einsamer fühlte als zuvor.
Wenn er ihn wenigstens begraben könnte... Aber er durfte seinen Vater nicht anrühren, durfte ihm nicht einmal die Augen schließen. Bei Nacht würden die Spiegelmänner wiederkommen und die Leiche holen, und wenn sie dann nicht genauso daläge, wie sie sie zurückgelassen hatten, würden sie wissen, dass jemand bei ihm gewesen war. Von da an wäre Liams Leben in Gefahr, und Fellyn Satander hätte seines umsonst geopfert.
Wieso hatte er sterben müssen? Welche Geheimnisse hatte er gehütet, dass der schreckliche Corvas auf ihn aufmerksam geworden war? Liam wünschte, sein Vater hätte mit ihm gesprochen, hätte ihn eingeweiht oder wenigstens einen Teil seiner Absichten preisgegeben. Doch was auch immer er gewusst oder erfahren hatte, es war mit ihm gestorben, und Liam blieben nichts als ein paar rätselhafte Andeutungen.
Nestor Quindal... das Gelbe Buch von Yaro D’ar... Von solch einem Buch hatte er noch nie gehört. Er hatte nicht einmal gewusst, dass sein Vater den berühmten Erfinder persönlich gekannt hatte.
Er durfte nicht hierbleiben. Er musste verschwinden, bevor es dunkel wurde, musste zu Nestor Quindal gehen, wie er es versprochen hatte. Aber er brachte es nicht über sich, zu fliehen und seinen Vater zurückzulassen, in der Gewissheit, dass die Spiegelmänner ihn mitnehmen und in einem namenlosen Grab verscharren würden wie einen verendeten Hund. Erst als die Nacht hereinbrach und sich jemand an der versiegelten Tür zu schaffen machte, fand er die Kraft aufzustehen. Auf Wiedersehen, Vater, murmelte er stumm, bevor er durch das Fenster seiner Kammer schlüpfte, es leise hinter sich schloss und durch das Gestrüpp hinter der Sternwarte huschte, wo die Dunkelheit ihn umfing.
8
Eisen, Städte und Lärm
Sie standen in der großen Halle des Palasts, Hunderte, das gesamte Volk der Alben. Gewänder raschelten leise. Mühsam gezügelte Ungeduld sprach aus den schwarzen Gesichtern. Lucien spürte, dass sie das Warten kaum noch ertrugen.
Er fand den Harlekin auf der Galerie, von wo aus er in den Saal hinabblickte, die Hände auf der Brüstung. Sein neues Flickengewand leuchtete rot und grün und gelb und wirkte in diesen Hallen mit ihrem ewigen Zwielicht so fehl am Platz wie ein bunter Stoffbezug auf einem antiken Lehnstuhl.
»Sollte ein frischgebackener König keine Robe tragen? Oder wenigstens eine Krone?«
Die Schellen an seiner Narrenkappe klimperten, als sich der Harlekin umdrehte. Lächelnd blickte er an sich herunter. »Nur mein alter Rebellenaufzug. Am Tag meines größten Triumphs konnte ich der Versuchung einfach nicht widerstehen.«
Lucien trat an die Brüstung. »Scheint so, als wären dir alle gefolgt. Sogar Aziels Anhänger.«
»Nach seiner Niederlage war es nicht gerade schwer, sie zu überzeugen. Niemand mag Verlierer.«
»Selbst dann nicht, wenn man mit einem faulen Trick gewonnen hat, richtig?«
Die Augen des Harlekins blitzten spöttisch. »Wirfst du mir etwa vor, ich hätte nicht fair gespielt? Ausgerechnet du, der Dieb?«
»Du hättest Aziel töten können.«
»Komm schon, Lucien. Einen Kerl wie ihn tötet man nicht so leicht. Er ist zäh; er wird sich erholen.«
Wird er das?, fragte sich Lucien. Aziel versteckte sich seit seiner Niederlage irgendwo in Bradost. Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er noch sehr schwach gewesen. Ganz im Gegensatz zum Harlekin: Der neue Herrscher der Alben wirkte kräftiger denn je. Er hatte sich vollständig von seiner Gefangenschaft und den Nachwirkungen von Jernigans Lampe erholt. Sogar seine verbrannte Hand war geheilt. Die Macht scheint ihm gutzutun.
»Er hätte herkommen sollen«, fuhr der Harlekin fort. »Wir hätten einander verzeihen und gemeinsam die Welt verlassen können.«
»Du weißt, dass er das niemals könnte. Er nimmt seine Aufgabe ernst.« Lucien betrachtete die wartenden Alben in der Halle. »Ihr seid also entschlossen zu gehen.«
»Es ist höchste Zeit.«
»Und die Menschen? Sie brauchen euch.«
»Menschen«, knurrte der Harlekin. »Sie haben uns längst vergessen.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Lucien.
»Du machst dir etwas vor. Was ist mit der Wilden Jagd? Den Werwölfen, Mantikoren und Greifen? Sie sind fort, lange schon. Vílen gibt es vielleicht noch zwei Dutzend, Harpyien noch weniger. Sie haben begriffen, dass die Zeit der Schattenwesen vorbei ist. Sieh dich doch um: überall Eisen, Städte und Lärm. Die Welt gehört jetzt den Menschen und ihren Maschinen. Darin ist kein Platz mehr für Magie und Geheimnisse.«
»Die Welt hat sich immer verändert«, erwiderte Lucien halbherzig.
»Aber noch nie so schnell. Lucien, hör dich reden. Du lebst schon zu lange unter den Menschen. Du kannst die Belange deines Volkes nicht mehr verstehen.«