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Lucien wünschte, er könnte abstreiten, was der Harlekin ihm vorwarf. Doch er wusste nur zu genau, dass der Herrscher der Alben der Wahrheit damit sehr nahe kam.

»Komm mit uns«, schlug der Harlekin vor. »Lass die Vergangenheit hinter dir und fang noch einmal von vorne an.«

»Ihr habt mich verbannt«, sagte Lucien lächelnd, »schon vergessen?«

»Ich kann den Bann aufheben. Ein Wort von dir, und du bist wieder einer von uns.«

»Du weißt, dass es damit nicht getan wäre. So schnell vergisst unser Volk nicht.«

»Warte, bis sie erst auf der anderen Seite sind. Dort gelten andere Regeln. Was du getan hast, spielt bald keine Rolle mehr.«

»Nein, mein Freund. Mein Platz ist hier.«

»Du wirst einsam sein.«

»Das bin ich schon lange. Auf ein paar Jahrhunderte mehr kommt es nicht an.«

»Dein letztes Wort?«

»Mein letztes Wort.«

»Eigensinnig bis zum Ende, was?«

»Hast du etwas anderes erwartet?«

Der Harlekin lächelte wieder. »Falls du es dir anders überlegst - du weißt, wo du uns findest. Viel Glück, alter Dieb.« Dann stieg er die Treppe herunter und durchquerte die Halle, wo die Alben eine Gasse für ihn bildeten.

Wind kam auf und wirbelte Luciens Haar durcheinander, als mitten im Saal ein Riss aufklaffte. Für einen Augenblick sah er Bäume, wo Mauern und Säulen hätten sein sollen, Lichtungen, umgeben von undurchdringlichem Dickicht, Sterne, die im Blätterwerk aufblitzten - und dann verschwanden die Alben. Der Riss schloss sich, der Wind flaute ab, und Lucien stand allein in dem riesigen Palast mit seinen weiten Hallen und endlosen Fluren.

»Viel Glück«, murmelte er leise.

Später in der Nacht wanderte er gedankenverloren durch das Labyrinth, das Vergnügungsviertel Bradosts. Niemand konnte ihn sehen, obwohl sich zu dieser Stunde Scharen von Menschen durch die Straßen treiben ließen. Wie alle Schattenwesen konnte er unauffällig sein, wenn er wollte, wie ein alter Kratzer an der Wand, den man irgendwann nicht mehr wahrnimmt. Nur Betrunkene und Opiumsüchtige bemerkten ihn dann noch, weshalb er um Tavernen und Spelunken einen weiten Bogen machte.

Adlige und Tagelöhner begegneten ihm auf seinem Weg durch Gassen und Höfe, Künstler, Jünglinge und gelangweilte Damen, alle auf der Suche nach ein wenig Zerstreuung, bevor die Sonne aufging und sie in das triste Einerlei ihres Lebens zurückkehren mussten. Ausgelassene Musik drang aus Varietés und Kaschemmen mit Buntglasscheiben. Der Rauch der Opiumpfeifen vermengte sich mit dem Geruch von Ale, Schnaps und billigen Duftwassern. Huren und Wunderheiler boten in den Torbögen ihre Dienste feil. An jeder Ecke warben Zirkusleute für das neuste Monstrositätenkabinett oder führten Taschenspieler, Gaukler und Feuerspucker ihre Kunststücke auf.

Lucien dachte an die Worte des Harlekins. Sieh dich doch um: überall Eisen, Städte und Lärm. Die Welt gehört jetzt den Menschen und ihren Maschinen. Darin ist kein Platz mehr für Magie und Geheimnisse.

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auf eine seltsame Weise liebte er diese Stadt und ihre Bewohner, trotz des Lärms und des Gestanks, den sie verursachten, trotz ihrer Dummheit und der Leidenschaften, die sie antrieben und die den Alben so fremd waren.

Hier wollte er leben, nirgendwo sonst. Dennoch fühlte er sich einsam - so einsam wie noch nie zuvor in den unzähligen Jahrhunderten seiner Existenz.

9

Die Herzkammer

Rauch stieg aus einem Wald von Schloten und Kaminen auf und vereinte sich über dem Viertel zu einer undurchdringlichen Glocke. Ein Luftschiff durchstieß den Qualm und beschrieb mit dröhnenden Motoren einen Bogen über den Bleidächern der Manufakturen, bevor es am Ankermast einer Kanonengießerei andockte. Liam beobachtete, wie es über dem Gebäude stand, während Männer auf der Plattform erschienen, Kisten aus der Gondel auffingen und zur Rampe trugen.

Kessel wurde dieser Stadtteil genannt, denn er lag in einer Senke zwischen drei Hügeln, im Süden begrenzt vom Fluss, eine einzige Ansammlung von Schmieden, Gießereien und Schmelzöfen. Liam kannte sich einigermaßen in den Gassen und Straßen aus, denn er war ein paar Mal mit seinem Vater hier gewesen, um Blitze zu verkaufen. Wo Nestor Quindals Werkstatt lag, wusste er jedoch nur vom Hörensagen. Müde machte er sich auf den Weg.

Rauch drang aus Fenstern und vergitterten Schächten. Ölige Abwässer strömten offene Kanäle entlang, die man auf wackeligen Planken überqueren musste. Der Lärm, der ihm aus den Hallen und Höfen der Fabriken entgegenschlug, war unbeschreiblich: Überall dröhnten und wummerten aetherbetriebene Maschinen, bizarre Ungetüme aus Stahl, Messing und Kupfer. Arbeiter brüllten, geschmolzener Stahl füllte zischend die Gussformen, glühendes Eisen wurde zurechtgehämmert. Und unaufhörlich regnete es Asche. Anfangs wischte sich Liam die Flocken noch aus dem Gesicht, doch bald schon gab er es auf. Er hatte die Nacht in den Abwasserkanälen Scotias verbracht und kaum geschlafen; er war so erschöpft, dass er sich nur noch mit purer Willenskraft auf den Beinen hielt. Außerdem knurrte sein Magen.

In seiner Verwirrung hatte er vergessen, aus der Sternwarte etwas zu essen oder Geld mitzunehmen. Glücklicherweise fand er in seiner Hosentasche noch einen Viertelschilling, von dem er sich in einer Garküche etwas Brot und gekochtes Kalbfleisch kaufte. Es reichte kaum, um satt zu werden, aber wenigstens bekam er etwas zwischen die Zähne.

Und wie er aussah: An seinem Hosenbein klebte Blut, an seinem Wams der Schmutz der unterirdischen Tunnel, an den Stiefeln Rattenkot. Er wollte nicht wissen, wie er stank - vermutlich wie eine wandelnde Sickergrube. Und so sollte er dem berühmtesten Erfinder der Welt unter die Augen treten? Er konnte von Glück sagen, wenn Quindal ihn nicht für einen bettelnden Schlammtaucher hielt und auf der Stelle fortjagte.

Als er den leeren Napf zurückgeben wollte, schlug ihm der Verkäufer hinter der Durchreiche plötzlich den Laden vor der Nase zu. Die Arbeiter vor der Garküche ließen ihr Essen fallen und suchten hastig das Weite. Verwundert wandte Liam sich um und sah vier Spiegelmänner herbeieilen. Von jähem Entsetzen durchzuckt, verbarg er sich hinter der Hausecke. Bitte lass sie mich nicht gesehen haben, betete er, doch die Spiegelmänner hatten es nicht auf ihn abgesehen. Sie blieben vor der Tür eines heruntergekommenen Stadthauses stehen. Mit wild pochendem Herzen beobachtete er, wie die Maskierten anklopften. Als niemand öffnete, zertrümmerten sie die Tür mit ihren Rabenschnäbeln und drangen ein.

Kurz darauf erklang Geschrei. Die Spiegelmänner zerrten zwei Männer mit blutüberströmten Gesichtern aus dem Haus und warfen sie in einen Gefangenenwagen, der am Anfang der Gasse vorgefahren war.

Liam schloss die Augen, als Bilder in ihm aufstiegen, Erinnerungen an seinen Vater, der zur Treppe hastete und zusammenbrach, getroffen von Corvas’ Messer. Tränen rannen ihm über die Wangen. Überall in der Stadt geschah dasselbe, Tag für Tag. Er würde niemals sicher sein, wohin er auch ging. Niemand war das, in Scotia nicht, nirgendwo.

Er blieb in seinem Versteck, bis der Gefangenenwagen fort war, und noch lange danach. Erst als der Verkäufer wieder die Läden öffnete und sich Leute vor der Garküche einfanden, brachte er den Mut auf, den Winkel zu verlassen.

Quindals Werkstatt lag mitten im Kessel, nur ein paar Straßen vom Chymischen Weg entfernt, den seltsamen Gerüchen nach zu schließen. Liam ging zum offenen Tor der verwinkelten Halle, wo ihn ohrenbetäubender Lärm empfing.

Hier und da brannte eine Gaslampe und brachte etwas Licht in das Halbdunkel. Unter der Decke aus Stahlträgern hing der Mittelteil eines Luftschiffes; Mechaniker kletterten in dem Gerippe herum und arbeiteten an den Motorgondeln. Riesige Zahnräder drehten sich knirschend, als ein Lastkran einen mannsgroßen Propeller hochhob. Rohre verliefen an den Wänden, versorgten verschiedene Maschinen mit Aether und sonderten dabei zischend goldenen Dampf ab. Männer trugen Kupferfässer, Rauchglasbehälter und Bauteile herum, andere rückten Apparaten, deren Funktion sich Liam nicht erschloss, mit Schraubenschlüsseln zu Leibe. Irgendwo im Zwielicht zuckte ein Blitz zur Hallendecke, gefolgt von einem Funkenregen und lautstarken Flüchen.