Liam sprach eine Maschinistin in einem ölverschmierten Kittel an. »Ich suche Nestor Quindal.«
»Er ist drüben in Halle zwei. Aber sei vorsichtig; sie haben gerade den Koloss mit Aether gefüttert.«
Er ging in die Richtung, die die Frau ihm wies, und kam in einen kleineren Raum, wo Kisten voller seltsam geformter Glasröhren herumstanden. Ein Mann entnahm einem Erdloch einen Klumpen geschmolzenen Glases und blies ihn mit einer Röhre zu einem glühenden Ball auf, den er mit einer Art Schere zerteilte. Dem Raum schloss sich ein breiter Korridor an, in dem Liam ein saurer Geruch entgegenschlug. In einer mannshohen Röhre schwebte eine Kreatur, die mit ihrem pulsierenden Schirm und den durchsichtigen Fangarmen einer Qualle ähnelte. Er hatte von diesen Tieren gehört: Es war eine Zitteranemone, ein Wesen, das in riesigen Schwärmen über den Himmel zog und sich von Blitzen ernährte. Eine zweite Zitteranemone lag auf einem Steintisch, wo sie von zwei Frauen in lederner Schutzkleidung in Teile geschnitten wurde. Die Tentakel stopften sie in Gläser; elektrische Entladungen schlugen zuckend gegen die Becherwände.
Liam stieg eine Treppe hinauf und gelangte in eine Halle, die der ersten glich, nur dass dort kein Luftschiff hing. Augenblicklich begriff er, was die Maschinistin mit »Koloss« gemeint hatte: Ein halbes Dutzend Leute umringten ein Geschöpf, das ganz aus Kupfer bestand. Es überragte selbst den größten Mann um einen Fuß und besaß zwei wuchtige Beine, einen abgeflachten Kopf, der ohne Hals auf den gepanzerten Schultern saß, sowie vier mit Werkzeugen und Greifern bestückte Arme. Sein Korpus mit den surrenden Zahnrädern wirkte wie ein riesiges Uhrwerk. Ventile stießen goldenen Aetherdampf aus, Blitze knisterten im Innern der bizarren Apparatur. Der Koloss machte zwei Schritte, unter denen der Hallenboden erzitterte, dann blieb er plötzlich stehen und schien nicht mehr in der Lage zu sein, den Fuß zu heben. Kurz darauf ließ er die Arme sinken, und die Zahnräder hörten auf, sich zu drehen, woraufhin unter den Anwesenden eine heftige Diskussion ausbrach.
Liam wartete, bis der Streit zu Ende war. Mit einer Hebevorrichtung brachte man den Koloss in eine liegende Position. Einer der Männer ging zu einem Tisch mit Konstruktionsplänen und beugte sich brütend darüber. Als er sich auf der Tischplatte aufstützte, sah Liam, dass er nur noch eine Hand besaß. Die andere war mechanisch und bestand aus winzigen kupfernen Teilen, schien jedoch genauso beweglich zu sein wie ihr Pendant aus Fleisch und Knochen.
Zögernd ging Liam zu ihm. Der Mann war einen halben Kopf kleiner als er und trug einen abgewetzten schwarzen Gehrock. Das graue Haar hatte er in dem misslungenen Versuch, die kahlen Stellen zu überdecken, nach vorne gebürstet. »Sind Sie Nestor Quindal?«
»Was willst du?«, schnarrte der Mann.
»Ich bin Fellyn Satanders Sohn.«
»Ich kenne keinen Fellyn Satander.«
»Das kann nicht sein. Er hat von Ihnen gesprochen. Er...« Liam stockte. »Er ist tot.«
Quindal hob sein zerknittertes Gesicht und blickte ihn aus stahlgrauen Augen an. Dann erwiderte er: »Das tut mir leid für dich, Junge. Aber ich habe zu tun. Geh jetzt.«
Liam war so fassungslos, dass er keinen Ton mehr herausbrachte. Sein Vater hatte ihm nichts als diesen Hinweis hinterlassen, und Quindal schickte ihn einfach fort. Er schluckte und sagte: »Lassen Sie es mich erklären. Mein Vater wollte, dass ich...«
Der Erfinder kritzelte etwas auf einen Zettel, dann kam er hinter dem Tisch hervor, packte ihn mit seiner mechanischen Hand und schob ihn unsanft zum Ausgang. »Verschwinde! Ich habe keine Zeit für dahergelaufene Bengel, die mich mit ihrer Lebensgeschichte behelligen.«
»Nein, warten Sie. Es ist wichtig...« Plötzlich bemerkte Liam, dass Quindal ihm unauffällig etwas in die Hand drückte, bevor der Erfinder sich abwandte und ohne ein weiteres Wort zum Tisch zurückging.
Der Zettel. Liam verbarg ihn in seiner Faust, blickte Quindal unschlüssig hinterher und entschied dann, die Werkstatt zu verlassen.
Draußen suchte er sich eine stille Ecke und betrachtete das Papierstück. Seine Hände schwitzten vor Aufregung, und die Tinte war etwas verwischt, aber er konnte sie noch gut lesen. Auf dem Fetzen stand: Chim. Brücke. N-Ufer. In einer halben Std.
Also war er doch nicht umsonst hergekommen. Er zerknüllte den Zettel, warf ihn in einen Gully und machte sich auf den Weg.
Auf der Chimärenbrücke herrschte reger Verkehr aus Kutschen, Ochsenwagen und Fußgängern. Ihr Name kam nicht von ungefähr: Auf den Brüstungen kauerten geflügelte Löwen, Harpyien, Greife und Mantikore mit tückischen Stachelschwänzen. Gelegentlich bewegte sich eines der steinernen Ungeheuer, drehte langsam den Kopf und beobachtete die vorbeifahrenden Droschken und Fuhrwerke. Als Liam noch ein Kind gewesen war, hatte ihm sein Vater erzählt, dass diese Geschöpfe in der alten Zeit über den Dächern Bradosts gelebt hätten, bevor sie allmählich zu Stein geworden seien. Manchmal weckte der Lärm der Stadt sie aus ihrem Schlaf, aber meistens saßen sie reglos da und gaben sich ihren uralten Träumen hin.
Liam spürte, wie ihm bei dieser Erinnerung abermals die Tränen kamen, und er schob sie hastig fort. Er durfte jetzt nicht an seinen Vater denken. Er brauchte einen klaren Kopf.
Im Schatten einer Platane setzte er sich auf die Ufermauer und wartete. Quindal tauchte wenig später auf. Liam wollte ihm entgegengehen, doch der Erfinder tat, als sei er gar nicht da, und stieg die Treppe zum Fluss hinab. War dieses seltsame Verhalten eine Vorsichtsmaßnahme? Liam beschloss, darauf einzugehen, und folgte Quindal erst, als dieser bereits in einer Öffnung unter der Brücke verschwunden war.
Dahinter tat sich ein dunkler Tunnel auf. Wasser tropfte aus löchrigen Rohren und sammelte sich auf dem Boden zu einem rostroten Rinnsal. Liam konnte Quindal nirgends entdecken und ging hinein.
Plötzlich tauchte ein Gesicht aus den Schatten auf. Er keuchte vor Schreck.
»Komm«, sagte Quindal. »Und sei um Himmels willen leise.«
Mit einer Mischung aus Furcht und Aufregung folgte Liam dem Erfinder tiefer in den Tunnel hinein, bis sich der Gang in einen Raum öffnete. Irgendwo sickerte trübes Licht herein und fiel auf metallene Wände, Gitterböden, hydraulische Kolbenvorrichtungen und schwarze Schächte, in denen Wasser rauschte. Nirgendwo schien es gerade Formen und Kanten zu geben; der gesamte Raum wirkte gewölbt und seltsam organisch.
»Was ist das für ein Ort?«, flüsterte Liam.
»Die alte Frischwasser-Pumpstation. Man nennt sie die Herzkammer. Sie ist seit Jahrzehnten außer Betrieb. Kaum jemand weiß, dass sie überhaupt existiert.«
Erst jetzt fiel Liam auf, dass der Raum tatsächlich wie ein menschliches Herz geformt war. »Warum treffen wir uns hier und nicht in der Werkstatt?«
»Dort sind zu viele Menschen. Zu viele Ohren, die Dinge hören, die sie nichts angehen.« Der Erfinder wandte sich ihm zu. Die spärlichen Lichtstrahlen spiegelten sich auf dem Kupfer seiner Hand. »Dein Vater ist also tot.«
Liam nickte.
»Wie ist es geschehen?«
»Corvas und zwei Spiegelmänner sind gestern Morgen in der Sternwarte aufgetaucht. Corvas hat ihn beschuldigt, in eine Verschwörung verwickelt zu sein. Als sie ihn mitnehmen wollten, hat er sich gewehrt. Dabei hat Corvas ihn getötet.«
»Das musste ja so kommen«, sagte Quindal leise, und Liam hörte den Schmerz in seiner Stimme.