»Sie... kannten meinen Vater?«
Anstelle einer Antwort fragte der Erfinder: »Ist Corvas auch hinter dir her?«
»Nein.«
»Bist du dir da sicher?«
Liam erzählte, wie er sich versteckt hatte, und berichtete von der Lüge seines Vaters, er habe Bradost schon vor Wochen verlassen. »Corvas scheint vorher nichts von mir gewusst zu haben. Er glaubt, ich sei in Torle. Er weiß nicht einmal, wie ich aussehe.«
»Und wenn die Geheimpolizei eure Sternwarte beobachtet hat?«
»Das glaube ich nicht. Sonst hätte Corvas nicht gefragt, ob mein Vater allein lebt.«
Das schien Quindal einigermaßen zu beruhigen. »Wo wohnst du jetzt?«
»Nirgendwo. In die Sternwarte kann ich nicht zurück.«
»Wenn du willst, kannst du in der Werkstatt unterkommen. Bis du eine andere Bleibe gefunden hast.«
»Danke«, sagte Liam. Er leckte sich über die trockenen Lippen. »Ist es wahr, was Corvas gesagt hat? War mein Vater wirklich in eine Verschwörung verwickelt?«
Quindal starrte ihn an. Zahnräder surrten leise, als er seine künstliche Hand zur Faust ballte und wieder öffnete. »Ich werde dir jetzt etwas über deinen Vater erzählen - wenn du mir dein Wort gibst, mit niemandem darüber zu sprechen.«
»Natürlich.«
»Du verstehst mich nicht, Junge«, sagte der Erfinder barsch. »Dies ist kein Spaß. Ein kleiner Fehler, ein unbedachtes Wort zur falschen Zeit, und es geht uns beiden an den Kragen. Dass ich überhaupt mit dir rede, liegt allein daran, dass du Fellyn Satanders Sohn bist.«
»Was soll ich tun?«, fragte Liam verunsichert. »Etwa... schwören?«
»Genau das. Bei deinem Leben. Und ich verspreche dir: Wenn du deinen Schwur brichst, sorge ich dafür, dass du es bereust.«
Liam zweifelte nicht daran, dass Quindal es mit seiner Drohung ernst meinte. »Bei meinem Leben. Ich schwöre es.«
Der Wissenschaftler nickte knapp. Der Gitterboden klapperte beunruhigend, als er einige Schritte durch die Herzkammer ging. In der Tiefe rauschte das Wasser. »Du bist noch jung. Was weißt du über die alte Republik und Lady Sarka?«
»Sie meinen das Ende des Magistrats?«
»Genau das.«
Natürlich wusste Liam über diese Dinge Bescheid - so jung war er auch wieder nicht. »Sie hat den Magistrat entmachtet, nachdem sie zur Lordkanzlerin gewählt wurde. Seitdem gibt es keine Republik mehr. Sie herrscht allein über die Stadt.«
»Vor fünf Jahren war das«, bestätigte Quindal. »Seitdem geht alles den Bach runter. Erdrückende Steuern. Hungersnöte. Keine Woche ohne Unruhen. Und überall die verdammten Spiegelmänner, die jeden ins Gefängnis werfen, der seinen Mund aufmacht. Nachdem deine Mutter gestorben war, hat dein Vater die Zustände in der Stadt nicht mehr ertragen. Er schloss sich einer Gruppe an, die plante, etwas gegen die Lady zu unternehmen. Die Männer, die er dort traf, litten genau wie er unter ihrer Willkür und der Grausamkeit ihrer Diener. Leider waren sie nur gewöhnliche Bürger. Ärzte, Handwerker oder Händler wie dein Vater, keine Krieger und geborenen Aufrührer. Feiglinge im Grunde ihres Herzens. Kaum wurden die Spiegelmänner auf sie aufmerksam, lösten sie sich auf, ohne das Geringste bewirkt zu haben.«
Obwohl Quindal es nicht aussprach, vermutete Liam, dass auch er dieser Gruppe angehört hatte. »Was geschah dann?«
»Fellyn war der Einzige, der nicht aufgeben wollte. Er glaubte, es gäbe nur einen Weg, die Herrschaft der Lady zu brechen.«
»Welchen?«
»Kannst du dich noch an den Phönix erinnern?«
»Natürlich.« Liam war noch ein Kind gewesen, als der Phönix die Welt der Menschen verlassen hatte, wie so viele magische Wesen vor ihm. Aber er würde nie vergessen, wie die Spitze des Phönixturms in Flammen gestanden hatte, ein Leuchtfeuer über den Dächern der Stadt und ein Zeichen für Freund und Feind, dass der Phönix über Bradost wachte. Einmal hatte er sogar gesehen, wie der Feuervogel am Himmel seine Bahnen zog, anmutiger und schneller als jedes Luftschiff.
»Dein Vater wollte den Phönix zurückholen«, sagte Quindal. »Er war davon überzeugt, dass die Republik ihren Wächter braucht.«
»Aber der Phönix ist fort. Unwiederbringlich. Genau wie Greife und Einhörner.«
»Mir brauchst du das nicht zu sagen. Aber Fellyn wollte das nicht hören. Er stellte Nachforschungen über den Phönix an. Er war regelrecht besessen von dieser Idee.«
Das also hatte Liams Vater in den vergangenen anderthalb Jahren getan. Deshalb war er nächtelang fortgeblieben, war er immer verschlossener geworden. »Hat er etwas herausgefunden?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Wissenschaftler. »Ich glaube, Fellyn spürte, dass ich sein Vorhaben für verrückt hielt. Er hörte auf, mir davon zu erzählen.«
Liam wünschte abermals, sein Vater hätte ihn ins Vertrauen gezogen. Wie viel Streit wäre ihnen erspart geblieben, wie viele Nächte hätte er nicht wach gelegen und sich gefragt, wo sein Vater steckte... »Diese Widerstandsgruppe - wann hat sie sich aufgelöst?«
»Vor einem Jahr.«
»Wieso ist Corvas erst jetzt darauf aufmerksam geworden?«
»Ich glaube nicht, dass diese Dinge etwas miteinander zu tun haben. Dein Vater hat womöglich etwas entdeckt, das er nicht hätte entdecken dürfen.«
»Er hat davon gesprochen, dass er diesmal zu weit gegangen ist.«
Quindal nickte. »Wer weiß, was er getan hat. Vielleicht ist es nicht bei Nachforschungen über den Phönix geblieben.«
Liam lehnte sich gegen einen eisernen Handlauf. Er war aufgekratzt und gleichzeitig so müde, dass er sich am liebsten an Ort und Stelle hingelegt hätte. »Er hat noch etwas gesagt. Für den Fall, dass ihm etwas zustößt, sollte ich zu Ihnen gehen. Ich sollte Sie bitten, das Gelbe Buch von Yaro D’ar zu beschaffen.«
»Das Gelbe Buch von Yaro D’ar?«, wiederholte der Erfinder stirnrunzelnd.
»Ja. Die Lady besitzt das einzige Exemplar.«
»Und er wollte, dass ich es ihr stehle?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Dein Vater und seine verrückten Ideen«, knurrte Quindal. »Als ob ich in der Lage wäre, in den Palast hineinzukommen. Ich bin Wissenschaftler, kein Einbrecher.«
»Was ist das überhaupt für ein Buch?«
»Frag mich was Leichteres, Junge.«
»Heißt das, Sie wissen es nicht?«
»Ich habe noch nie davon gehört.«
Liam schwieg bestürzt. Er war in der festen Annahme hergekommen, Quindal würde ihm sagen, was es mit den Andeutungen seines Vaters auf sich hatte. Nicht im Traum hätte er gedacht, der Erfinder könnte genauso ahnungslos sein wie er. »Aber wie wollen Sie das Buch finden, wenn Sie nichts darüber wissen?«
»Wer sagt, dass ich das will?«, erwiderte Quindal.
»Interessiert es Sie nicht, worauf mein Vater gestoßen ist?«
»Nein. Ich bin ein für alle Mal fertig mit Verschwörungen. Ich hatte in meinem Leben weiß Gott genug Ärger.«
»Aber es war sein letzter Wille, dass Sie das für ihn tun!«
»Dein Vater war ein mutiger Mann. Ich bin es nicht. Ich bin nur ein alter Tüftler, der in Ruhe an seinen Apparaten herumbasteln will, solange seine Augen noch mitspielen. Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss, Junge. Aber so ist es nun einmal.«
Für einen Augenblick stieg Wut in Liam auf. Doch wer war er, von einem Fremden zu verlangen, sich für die verrückten Pläne seines Vaters in Gefahr zu bringen? Er hatte gesehen, wozu die Spiegelmänner fähig waren. Er konnte es Quindal nicht verdenken, dass er mit alldem nichts zu schaffen haben wollte. »Was werden Sie jetzt unternehmen?«
»Nach Hause gehen und so weitermachen wie bisher«, erwiderte der Erfinder. »Und du solltest das auch tun, wenn du meinen Rat hören willst.«
»Das kann ich nicht.«
Quindal musterte ihn, und zum ersten Mal zeigte sich so etwas wie Mitgefühl in seinen Augen. »Mein Angebot mit der Werkstatt gilt ab sofort. Und wenn du Arbeit brauchst - ich suche immer Leute, die etwas von Blitzen verstehen.«