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»Nein, das meine ich nicht. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Ich muss wissen, was mein Vater herausgefunden hat. Immerhin war es so wichtig, dass er dafür sein Leben aufs Spiel gesetzt hat.«

»Davon rate ich dir ab. Diese Sache ist zu groß für dich.«

»Das ist mir egal.«

»Es wird dir nicht mehr egal sein, wenn du in einer dunklen Zelle sitzt und auf Corvas’ Folterknechte mit ihren Zangen und Messern wartest.«

Das Bild, das Quindal damit heraufbeschwor, jagte Liam einen Schauder über den Rücken. War er wirklich bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen? Ja, sagte eine Stimme tief in seinem Innern, obwohl schon der Gedanke an Corvas und die Spiegelmänner neue Furcht in ihm aufsteigen ließ. Noch vor zwei Tagen hatte er ein ganz gewöhnliches Leben geführt; jetzt lag es in tausend Scherben vor ihm. Was konnte er noch anderes tun, als fortzuführen, was sein Vater begonnen hatte?

»Dazu wird es nicht kommen«, erwiderte er. »Nicht, wenn ich vorsichtig bin.«

»Vorsichtig bei was?«, fragte Quindal argwöhnisch.

»Ich gehe zu Lady Sarka und hole das Buch.«

»Und wie willst du das anstellen?«

»Mir fällt schon etwas ein.«

»Sei doch kein Narr!«, fuhr der Erfinder ihn an. »Kein Gebäude in Bradost wird so gut bewacht wie das Sarka-Anwesen. Dort wimmelt es von Spiegelmännern. Und einige Diener der Lady haben magische Kräfte. Nicht einmal eine Küchenschabe gelangt dort unbemerkt hinein.«

»Ich könnte versuchen, Arbeit im Palast zu bekommen.«

»Unmöglich. Nicht ohne Beziehungen.«

»Ich habe Beziehungen.«

»Wen?«

»Sie.«

Das verschlug Quindal die Sprache. »Ich soll dir eine Stelle im Palast verschaffen?«, fragte er schließlich.

»Warum nicht? Sie sind der berühmteste Wissenschaftler der Welt. Jeder weiß, wie sehr Lady Sarka Ihre Arbeit bewundert. Vielleicht tut sie Ihnen den Gefallen.«

»Du überschätzt meinen Einfluss.«

»Sie könnten es wenigstens versuchen«, sagte Liam verärgert. »Oder sind Sie sogar dafür zu feige?«

»Pass auf, was du sagst, Junge«, knurrte der Erfinder. »Meine Geduld hat Grenzen.«

Liam bereute augenblicklich seine Unbeherrschtheit. Es stand ihm nicht zu, so mit Quindal zu sprechen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Das war undankbar von mir. Sie hören mir zu und bieten mir sogar eine Unterkunft an. Und ich habe nichts Besseres zu tun, als Sie zu beleidigen.«

»Schon gut«, erwiderte Quindal. »Du hast ja recht. Ich bin feige geworden, feige und kleinmütig. Vielleicht ist es an der Zeit, daran etwas zu ändern.«

»Heißt das, Sie helfen mir?«, fragte Liam mit neuer Hoffnung.

»Ich werde sehen, was ich tun kann. Und jetzt lass uns gehen. Ich habe genug von diesem Loch. Ich bin ein alter Mann, und tote Herzen machen mich nervös.«

10

Laterna Magica

Lucien schlug widerwillig die Augen auf, als irgendwo das Signalhorn einer Schaufelbarke ertönte. Er betrachtete die modrigen Tapeten, die löchrigen Fensterläden, das Tischchen mit dem Grammofon und seine Wasserpfeife und begriff allmählich, dass er sich in einem seiner Verstecke befand. Nur in welchem? Offenbar das alte Hotel am Fluss, dem Lärm nach zu schließen. Irgendwie war er in der vergangenen Nacht hier gestrandet.

Nach und nach fiel ihm auch alles andere wieder ein: der Harlekin in seinem Flickenanzug, das Verschwinden der Alben, sein Selbstmitleid. Diverse Flaschen neben dem Bett gaben Aufschluss darüber, was danach geschehen war. Es waren sehr viele Flaschen. Lucien stöhnte leise und beschloss, im Bett zu bleiben, bis sich sein Kopf nicht mehr anfühlte, als würde jemand von innen gegen die Schädeldecke hämmern.

Irgendwann erklang ein metallisches Summen. Er war sich nicht sicher, ob es sich dabei um eine Begleiterscheinung seiner Kopfschmerzen handelte, also öffnete er ein Auge. Durch eines der zersplitterten Fenster flog ein Moskito herein. Kein gewöhnlicher Moskito: Dieser war so groß wie eine Kinderhand und bestand ganz aus Kupfer. Das mechanische Insekt landete auf einem Bettpfosten. Die hauchdünnen Blechflügel kamen zur Ruhe. Am Rücken öffnete sich eine winzige Klappe, der ein Traum entstieg.

»Bitte nicht«, ächzte Lucien.

Der Traum quoll als unförmige Blase aus dem Moskito hervor, fiel neben das Bett, wuchs und nahm die Gestalt eines aristokratischen jungen Mannes an. Mit einem herablassenden Lächeln sah er sich im Zimmer um. »Geblümte Tapete? Dagegen solltest du dringend etwas unternehmen, alter Freund.«

Lucien kannte den Traum - es war einer von der Sorte, bei dem man erst in der Schule merkte, dass man keine Hose anhatte. »Verschwinde«, sagte er und presste sich das Kopfkissen aufs Gesicht.

»Wo du es hier so nett hast? Ist das da etwa Absinth? Lucien, ich beginne, mich um dich zu sorgen.«

Der Alb lugte unter dem Kissen hervor. »Was willst du?«

»Aziel wünscht dich zu sehen.«

»Er lebt also noch? Wo ist er?«

»Im Varieté im Labyrinth. Bei der Alten Arena.«

»Richte ihm aus, ich komme morgen.«

»Du hast mich nicht verstanden«, sagte der Traum liebenswürdig. »Er will dich jetzt sehen. Auf der Stelle.«

»Er kann mich mal.«

»Ts, ts, was ist denn das für eine Ausdrucksweise? Du hörst dich schon an wie ein Mensch.«

Lucien warf das Kopfkissen fort und stand auf. »Ich bin nicht Aziels Lakai. Ich gehe zu ihm, wann es mir passt.«

»Er wusste, dass du das sagen würdest«, erwiderte der Traum. »Deshalb hat er einige Ghule hergeschickt, mit dem Auftrag, dich zu eskortieren.«

»Ghule?«, fragte Lucien entgeistert.

»Vier, um genau zu sein. Sie warten unten im Foyer.«

»Er wagt es, mir diese stinkenden Aasfresser auf den Hals zu hetzen?«

»So drastisch würde ich es nicht formulieren; aber ja: Genau das hat er getan.«

»Wir haben eine Abmachung! Er darf nicht einfach über mich verfügen, als wäre ich sein Leibeigener.«

»Ich soll dir außerdem ausrichten, dass eure Übereinkunft unter den veränderten Umständen hinfällig ist«, ließ ihn der Traum wissen.

»So«, knurrte Lucien, »ist sie das?«

»Aber er ist bereit, mit dir über eine neue Vereinbarung zu verhandeln. Wirst du dich nun auf den Weg machen, oder soll ich die Ghule über deine Weigerung in Kenntnis setzen?«

»Das macht dir Spaß, was?«, erwiderte Lucien missmutig. »Du genießt das richtig.«

»Ein gewisses Vergnügen kann ich nicht bestreiten.«

»Wäre das alles?«

»Ja.« Eine Zigarette erschien in den feingliedrigen Fingern, und der Traum begann, gelangweilt zu rauchen. Dann starrte er Lucien erschrocken an. »Nein, warte, da ist doch noch etwas...«

»Auf Wiedersehen«, sagte Lucien.

Der Traum verschwamm. »Bitte, schick mich nicht wieder zurück! Du weißt nicht, wie es da drin ist. Aaaaaar...« Der junge Mann wurde wieder zu einer Blase, die schrumpfte und schließlich verschwand. Die Klappe des Moskitos schloss sich klickend. Lucien steckte das mechanische Insekt in seine Hosentasche.

Ghule, dachte er. Ist das zu fassen?

Er legte keinen Wert darauf, den Untoten zu begegnen, also machte er sich unauffällig, stieg aus dem kaputten Fenster und balancierte den Sims an der Außenmauer des verlassenen Hotels entlang, bis er zu einer Stelle kam, wo er hinunterklettern konnte. Es war Abend, aber immer noch viel zu hell für seinen schmerzenden Kopf, weswegen er sich für den Weg durch die Katakomben entschied. Als er die Tunnel unter dem Labyrinth erreichte, erklomm er eine rostige Leiter und gelangte in einen heruntergekommenen Hinterhof, wo es von Ratten wimmelte. Kurz darauf betrat er das Varieté.