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In dem abgedunkelten Saal fand gerade eine Laterna-magica-Vorstellung statt. Knochenmänner erschienen auf den wallenden Rauchschwaden, Phantasmagorien aus purem Licht, die mal hierhin, mal dahin zuckten. Der Pianist spielte eine unheilvolle Melodie, während eine Stimme verkündete: »Hört, ihr Leute, was in jener Nacht in den Wäldern geschah - hört es und erschaudert!«

Die Knochenmänner verschwanden, wurden von einem Wald überlagert. Rauch brodelte im Lichtkegel der Laterna magica, und ein Reiter tauchte zwischen den toten Bäumen auf - ein Reiter ohne Kopf. Einige Frauen schrien erschrocken auf.

Der Rauch wallte auf, als Lucien ungesehen den Raum durchquerte. Er teilte einen Vorhang und betrat einen Gang, in dem es nach Pfeifentabak, schalem Ale und Urin roch. Ein Betrunkener torkelte ihm entgegen und glotzte ihn aus trüben Augen an.

»Schlaf«, wisperte Lucien. Der Mann sank in sich zusammen.

Lucien stieg über ihn hinweg, öffnete eine verklemmte Luke, kletterte eine Leiter hinab, die bei jeder Bewegung gefährlich knarrte, und bahnte sich einen Weg durch verstaubte Requisiten, bis er schließlich zu einer vergessenen Tür im hintersten Winkel des Kellers gelangte, wo die schaurige Klaviermusik nur noch gedämpft zu hören war.

Als er sie öffnete, wobei er mit einem Tritt nachhelfen musste, schlug ihm ein Geruch entgegen, der ihm ganz und gar nicht gefiel.

Augenpaare leuchteten fahl in der Dunkelheit. Gestalten traten aus den Schatten hervor, reckten krallenartige Hände nach ihm. Lippenlose Münder entblößten Fangzähne. Totes Fleisch und schmutzstarrende Lumpen klafften auf und gaben den Blick auf Kieferknochen, bleiche Rippen und Wadenbeine frei. Der Gestank raubte ihm schier den Atem. Langsam wich er zur Tür zurück.

Hunger, wisperten die Ghule.

Wir sind so hungrig.

Fleisch.

Gib uns Fleisch...

»Was habt ihr hier zu suchen?«, fragte Lucien scharf und schlug eine Krallenhand fort, die ihm über die Wange kratzen wollte. »Gibt es in euren Löchern keine Knochen mehr, die ihr auslutschen könnt?«

Wir wollen Menschenfleisch, erwiderten die abscheulichen Stimmen.

Warmes Fleisch.

Jaaa. Und Blut. Süßes Blut...

Plötzlich knarrte eine Tür, und Licht flutete in die Kammer. Die widerwärtigen Geschöpfe krächzten und stöhnten wütend, hoben die Arme vor ihre Gesichter und ließen von ihm ab, während sie zurückwichen. Lucien kniff die Augen zusammen und vermied es, in die Quelle der gleißenden Helligkeit zu blicken.

»An deiner Stelle würde ich mich beeilen«, sagte jemand. »Das Licht hält sie nicht lange in Schach.«

Lucien hastete zur Tür. Die Laterne wurde abgeblendet, und er konnte endlich wieder etwas sehen. Vor ihm stand ein Mann, dessen eng anliegender Anzug dieselbe Farbe wie sein Haar aufwies: ein so dunkles Rot, dass es schon beinahe Schwarz war. »Habe ich mich im Haus geirrt?«

»Keineswegs«, sagte der Rotgekleidete, in dessen Augen ein unheilvolles Feuer glühte. Er schloss die Tür und ging mit schaukelnder Laterne voraus.

Lucien erkannte einen Dämon, wenn er einen sah. Bei diesem handelte es sich um eine seltene Sorte: um einen Incubus, gezeugt von einem Geschöpf des Pandæmoniums, geboren von einer sterblichen Frau. Erst die Ghule, und nun das. War Aziel noch bei Sinnen?

Sie betraten einen unterirdischen Salon. Kerzen brannten in angelaufenen Kupferleuchtern, ihre Flammen spiegelten sich geisterhaft in den blinden Spiegeln an den Wänden. Kaputte Tische und Stühle standen herum. Die Holztäfelung an der Decke war morsch, schimmelig und wurmzerfressen. Lucien war, als rieche seine feine Nase trotz des Modergestanks uralten Zigarrenrauch, der so tief in Tapeten und Mobiliar eingesunken war, dass er in hundert Jahren nicht verschwinden würde.

Auf einem kleinen Podest erwartete ihn die nächste Überraschung. Dort saßen zwei Frauen mit kalten Augen und violetten Haaren, deren Gewänder an Leichentücher erinnerten. Vílen, obendrein Zwillinge. Und vermutlich noch bösartiger als dieser Halbdämon. Aber wenigstens handelte es sich um Schattenwesen, nicht um Höllenbrut.

Ein zerfetzter roter Vorhang teilte sich, und Aziel kam herein. »Lucien«, sagte er zur Begrüßung. »Das sind Fay und Whisper. Seth kennst du ja schon.«

»Ghule, Vílen und ein Incubus?«, fuhr Lucien ihn an. »Hast du den Verstand verloren?«

»Hab keine Angst. Sie sind mir treu ergeben.«

»Seit wann umgibst du dich mit solchem Gesindel?«

»Schwierige Aufgaben liegen vor mir. Dafür brauche ich Diener mit gewissen Fähigkeiten.«

»Vílen und Dämonen, meinetwegen«, schnarrte Lucien. »Aber Ghule? Das kann nicht dein Ernst sein!«

»Sie sind nützlich.«

»Sie sind widerwärtig. Weiß überhaupt der Madenkönig davon?«

»Sie sind mit seinem Einverständnis hier.«

»Hast du etwa mit ihm geredet?«

»Natürlich.«

Lucien war erschüttert. Niemand, der bei Vernunft war, ließ sich mit dem Madenkönig ein. Er musterte den vormaligen Herrscher der Alben und versuchte, Anzeichen von Wahnsinn zu erkennen. Überrascht hätte es ihn nicht, nach allem, was der Harlekin ihm angetan hatte. Doch Aziel wirkte nicht im Mindesten verrückt. Er hatte sich sogar von seinen Verletzungen erholt. Seine einstige Stärke und Macht hatte er allerdings verloren. Vor Lucien stand ein alter und gebrochener Alb, der sichtlich unter der eigenen Schwäche litt. Vielleicht war das der Grund für Aziels seltsame Gefolgschaft: Er hatte Angst und war deshalb nicht wählerisch, was seine Anhänger betraf.

»Na schön. Deine Sache«, sagte Lucien barsch. »Reden wir lieber über die Art und Weise, wie du mich herbeordert hast.« Er warf den Moskito. Das Kupferinsekt schaffte es nicht rechtzeitig, seine Flügel zu entfalten, und fiel Aziel vor die Füße, wo es ungeschickt versuchte, seine sechs Beine zu sortieren.

»Ein Traum ist der einfachste Weg, mit dir in Verbindung zu treten«, erwiderte Aziel.

»Ich meine die verdammten Ghule in meinem Hotel!«

»In der Vergangenheit hat sich deine Unzuverlässigkeit als sehr zeitraubend erwiesen. Ich bin in Eile. Deshalb musste ich meiner Nachricht etwas Nachdruck verleihen.«

»Ich bin nicht dein Sklave!«, fauchte Lucien. »Und was fällt dir ein, unsere Abmachung aufzukündigen?«

»Sie beruht auf Voraussetzungen, die nicht mehr bestehen.«

Luciens Schädel tat zu weh, um sich noch länger zu streiten. Er schluckte eine zornige Erwiderung herunter und wünschte, es gäbe hier irgendwo ein Becken mit kaltem Wasser, in das er seinen Kopf tauchen könnte.

Und im Grunde hatte Aziel nicht unrecht. Früher war Lucien seine Verbindung zur Welt der Menschen gewesen. Im Gegenzug hatte Aziel den Bann, der auf seinem Untertanen lag, gelockert. Nun waren die Alben fort, und Luciens Ächtung besaß keine Bedeutung mehr. Zeit, neu zu verhandeln.

»Also gut«, sagte Lucien müde. »Vergessen wir die Ghule. Versprich mir nur, das nächste Mal auf solche Maßnahmen zu verzichten.«

Aziel nickte.

Lucien ließ sich in einen Sessel fallen, aus dem das Innenfutter hervorquoll. »Gibt es hier Wasser? Oder Kaffee?«

Aziel nahm ihm gegenüber Platz und ignorierte seine Frage. »Du warst dabei, als unser Volk verschwunden ist, richtig?«

»Ja.«

»Hast du mit dem Harlekin gesprochen?«

»Er hat sich nach dir erkundigt«, berichtete Lucien. »Er hoffte, ihr hättet euren Zwist beilegen und gemeinsam fortgehen können.«

»Dieser Hund«, knurrte Aziel. »Nach allem, was er angerichtet hat.«

»Mit einem hat er recht: Was hält dich noch hier?«

»Irgendjemand muss auf die Träume aufpassen.«