Schritt für Schritt rückten die Schlammtaucher vor, legten ihre Funde auf den Tisch, ließen sie von Asher schätzen und zogen mit ein paar Münzen in der Hand von dannen. Einer von Ashers Gehilfen schob sich eine dampfende Kartoffel in den Mund, kaute mit vollen Backen und spülte den Bissen mit Ale herunter. Der Anblick erinnerte Jackon daran, wie hungrig er war. Sein Magen knurrte so laut, dass es jeder im Keller hören musste. Er sehnte sich so sehr nach einer heißen Kartoffel, dass es schmerzte. Er wünschte, er hätte wenigstens ein bisschen Brot. Oder überhaupt irgendetwas zu essen.
Um sich abzulenken, lutschte er einen Kieselstein und hörte den geflüsterten Gesprächen der anderen Schlammtaucher zu. Angeblich kam es wieder zu Unruhen, diesmal in Scotia und bei den Aetherküchen am Stadtrand, und die Geheimpolizei der Lady suchte seit Tagen ohne Erfolg nach den Rädelsführern. Für Jackon waren das Geschichten aus einer anderen Welt. Er war noch nie auf der anderen Seite des Flusses gewesen. Was kümmerte es ihn, was dort geschah?
Sehr viel größere Sorgen bereiteten ihm die neusten Gerüchte über die Ghule.
Der Mann vor ihm, ein dürrer Kerl mit einem Geschwür unter dem linken Auge, raunte seinen Kumpanen zu, in der vergangenen Nacht hätten die Ghule wieder jemanden geholt: die schwangere Alys, die so dumm gewesen war, sich beim Hauptsammler herumzutreiben. Als ihr Mann sich auf die Suche nach ihr machte, hörte er ihre Schreie und sah fahle Augenpaare in der Dunkelheit, bevor er Hals über Kopf floh. Niemand machte ihm einen Vorwurf. Gegen die Ghule konnte selbst der stärkste Mann nichts ausrichten. Außerdem war es Alys’ eigene Schuld.
Jackon schluckte. Er hatte Alys gekannt. Und sein Unterschlupf befand sich ganz in der Nähe der Pumpstation. Nacht für Nacht hörte er das Stampfen und Zischen der riesigen Pumpen, aber manchmal drangen auch andere Geräusche aus dem schwarzen Abgrund des Hauptsammlers herauf, unheimliche Geräusche, und er hoffte stets, dass es nur die Ratten waren.
»Na los, Junge, lass sehen, was du hast.«
Jackon schrak auf. In seiner Besorgnis hatte er gar nicht bemerkt, dass er an der Reihe war.
Asher hatte die obersten Knöpfe seines Wamses geöffnet und die Ärmel hochgekrempelt und glotzte Jackon ungeduldig an. Der bullige Lumpenhändler hatte ein gerötetes Gesicht, denn er schüttete becherweise Ale in sich hinein, während er die Sachen der Schlammtaucher begutachtete. Jackon machte sich auf unangenehme Verhandlungen gefasst. Betrunken war Asher noch geiziger als sonst.
Er öffnete seinen Beutel und schüttelte den Inhalt heraus.
»Was soll das sein?«, knurrte Asher, als er aus den Knochen und Leinenresten einen Brocken Holz herausfischte.
»Ein Stück von einer Wetterfahne«, sagte Jackon.
Der Lumpenhändler schnaubte. »Schaut euch diese Rotznase an«, sagte er. »Bringt uns eine halbe Wetterfahne.«
Seine beiden Helfer grinsten verächtlich.
Ashers Augen verengten sich. »Verrate mir mal, Junge, was ich mit einer halben Wetterfahne anfangen soll.«
Jackon schwieg. Dass seine heutige Ausbeute nicht gerade berauschend war, wusste er selbst.
»Na schön«, meinte der Lumpenhändler. »Für die Knochen und das Leinen kriegst du einen Viertelschilling.«
»Was? Letzte Woche gab’s für die gleiche Menge noch einen halben!«
»Letzte Woche, letzte Woche«, wiederholte Asher unwirsch. »Die letzte Woche ist vorbei, Junge, falls du’s noch nicht gemerkt hast. Ich brauch deine Knochen nicht. Krieg das Zeug karrenweise. Es gibt ja immer mehr von euch.«
Damit hatte er leider nicht unrecht: Jede Woche nisteten sich neue Leute in den Abwasserkanälen ein, und die Schlange in der Alten Glasbläserei wurde von Tag zu Tag länger. Trotzdem wollte Jackon sich nicht so leicht geschlagen geben. »In der Seifensiederei könnte ich einen ganzen Schilling für die Knochen bekommen.«
»Was du nicht sagst. Warst du schon mal dort?«
»Ja«, log Jackon.
»Gut. Dann weißt du ja, dass sie am anderen Ende der Stadt liegt. Geh ruhig zur Seifensiederei. In der Zwischenzeit durchwühlen deine Nachbarn dein Schlupfloch und klauen alles, was du nicht am Leib trägst.«
»So etwas tun Schlammtaucher nicht«, gab Jackon kleinlaut zurück.
»Ach ja, richtig, die berühmte Bettlerehre.« Asher schnaubte noch einmal. »Ich geb dir einen kostenlosen Rat, Junge: Nimm den Viertelschilling und schwirr ab, bevor ich’s mir anders überlege.«
Er warf eine Münze über den Tisch. Jackon hob sie auf und steckte sie ein, obwohl er dem Lumpenhändler lieber ins Gesicht gespuckt hätte. Während er davonging, lachten die drei Männer über ihn.
Einen lumpigen Viertelschilling, für einen ganzen Tag stumpfsinniges Warten bei seinen Netzen, für stundenlanges Hoffen, dass sich endlich einmal etwas darin verfing.
Aber was hätte er tun sollen? Asher wusste genau, dass Jackon auf ihn angewiesen war. Er konnte jeden Preis zahlen, den er wollte.
Jackon war zu hungrig, um sich in Selbstmitleid zu ergehen. Die Münze sicher in der Faust verwahrt, kehrte er der Glasbläserei den Rücken und eilte durch die unbewohnten Gassen, bis er zum Flussufer kam. Die Fischhändler bauten bereits ihre Stände ab und verstauten Kisten und Körbe auf ihren Booten. Möwen tummelten sich auf den alten Piers und Anlegestegen und stritten sich kreischend um die Fischabfälle. Vor den Garküchen am Rand des Hafenviertels herrschte Gedränge; Matrosen und Hafenarbeiter machten sich gierig über ihren Gerstenbrei oder Salzfisch her.
Jackon lief das Wasser im Mund zusammen, als er den geräucherten Stockfisch roch, der auf den Tischen auslag. Er stellte sich irgendwo an, wurde jedoch verjagt, bevor er beweisen konnte, dass er Geld besaß. Schließlich fand er eine Garküche, wo auch Schlammtaucher bedient wurden. Der Viertelschilling reichte gerade einmal für etwas lauwarme Erbsensuppe und ein Stück knochenhartes Brot. Er hielt seinen Holznapf hin und bettelte so lange, bis ihm der Verkäufer eine halbe Kelle mehr gab und ihn mit einem Fluch zum Teufel schickte.
Er suchte sich einen Platz auf der Ufermauer, wo er ungestört essen konnte, und ließ die Beine baumeln. Jeden Bissen kaute er so oft wie möglich; trotzdem quälte ihn der Hunger anschließend schlimmer als vorher. Er war schon jetzt recht mager. Wenn das so weiterging, bestand er bald nur noch aus Haut und Knochen. Wenigstens bin ich dann kein Leckerbissen für die Ghule mehr, dachte er grimmig.
Nachdem er aufgegessen hatte, blieb er noch eine Weile sitzen, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen. Er mochte das Flussufer. In seinem Rücken erstreckte sich die Grambeuge mit der Alten Glasbläserei, deren Bleidächer matt in der Sonne schimmerten, den alten Stadthäusern und den Hütten aus Holz, rostigem Blech und Segeltuch: ein Sammelsurium aus abenteuerlichen Konstruktionen, die gegen alle Erwartung dem Wind trotzten. Der Rauch von den Müllfeuern und Kohlepfannen vermischte sich manchmal mit den seltsamen Gerüchen vom Chymischen Weg, wo Alchymisten, Giftmischer und Wunderheiler Tag und Nacht mit exotischen und tödlichen Substanzen hantierten. Im Süden grenzte die Grambeuge an das Hafenviertel; die Bretterbuden wichen Lagerhallen, Werften und Tavernen mit Bleiglasfenstern, in denen Seeleute aus aller Herren Länder ein und aus gingen: dunkelhäutige Männer mit gezwirbelten Bärten aus Yaro D’ar, Kapitäne der aetherbetriebenen Schaufelbarken, die den Rodis hinauf- und hinunterschipperten, Walfänger aus Torle und Matrosen aus Ländern, die so fern und fremdartig waren, dass Jackon ihre Namen nicht aussprechen konnte. Auf der anderen Seite des Flusses lag der Luftschiffhafen Bradosts mit seinem Wald aus Ankermasten und den Hallen, die riesigen Muscheln ähnelten. Vom Flugfeld stiegen unaufhörlich Fesselballons und Luftschiffe auf und schwebten am glühenden Abendhimmel wie Untiere aus grauer Vorzeit.