»Das ist nicht mehr deine Aufgabe.«
»Es wird so lange meine Aufgabe bleiben, bis ein anderer sie auf sich nimmt. Dieser pflichtvergessene Bastard von Harlekin konnte ja nicht schnell genug verschwinden.«
»Du bist allein, Aziel. Wie willst du das schaffen?«
»Ich muss. Ganz einfach.«
Lucien schwieg nachdenklich. Jahrtausendelang hatten die Alben unter den wachsamen Augen ihres Herrschers die Träume gehütet, sie geordnet und dafür gesorgt, dass sie im Gleichgewicht blieben und nichts ihren Fluss störte. Ohne die Alben war Aziel dieser Aufgabe unmöglich gewachsen. Ein paar Wochen vielleicht, aber nicht länger. Und was dann geschah, wusste niemand. »Weswegen hast du mich gerufen?«, fragte Lucien schließlich.
»Deswegen.« Aziel legte Jernigans Lampe auf den Tisch - besser gesagt, das, was davon übrig war, seit der Harlekin sie gezündet hatte: verbogenes Kupfer und Glassplitter.
Lucien betrachtete die Bruchstücke. Eine gemeinere Waffe hätte der Harlekin nicht finden können. Alben hassten grelles Licht. Und das Licht von Jernigans Lampe war heller als die Sonne. So hell, dass es keinen Schatten warf. Ihn schauderte.
»Der Harlekin ist nicht aus eigener Kraft freigekommen«, sagte Aziel. »Jemand muss ihm geholfen haben.«
»Derselbe, der ihm die Lampe gegeben hat?«
»Vermutlich.«
»Wer sollte so etwas tun?«
»Deshalb bist du hier: um dies herauszufinden.«
Lucien konnte nicht behaupten, dass ihn Aziels Bitte sonderlich überraschte. »Wozu? Was geschehen ist, ist geschehen. Daran ändern auch deine Nachforschungen nichts.«
»Wir werden sehen«, erwiderte Aziel. »Hilfst du mir?«
»Was bietest du mir dafür?«
»Gar nichts.«
Lucien hustete. »Du hast mir schon bessere Angebote gemacht.«
Aziel packte ihn am Arm. »Willst du in einer Welt ohne Alben leben, Lucien? Willst du für alle Zeit allein sein?«
Lucien schwieg. Das Verschwinden der Alben machte ihm in der Tat zu schaffen, mochte er sich noch so sehr einreden, dass ihre Angelegenheiten ihn schon lange nicht mehr betrafen. Aziel war das offenbar nicht entgangen.
»Wir fangen mit dem Kerker des Harlekins an«, sagte der einstige König, und in seinen Augen erschien ein Glanz, der an seine alte Macht gemahnte. »Du bist doch bereit für einen Streifzug ins Reich des Madenkönigs?«
11
Das geheime Zimmer
Jackon hob den Brocken mit beiden Händen hoch und warf ihn zu den anderen. Die Schubkarre war schon fast voll, obwohl er gerade einmal ein Drittel der abgesteckten Fläche umgegraben hatte. Offenbar bestand der Boden in diesem Teil des Gartens hauptsächlich aus Steinen, was Ibbott Hume aber nicht davon abhielt, hier ein Blumenbeet anlegen zu wollen. Mit zusammengebissenen Zähnen griff Jackon zur Schaufel und stieß sie in die Erde. Ihm stand ein anstrengender Nachmittag bevor - und ein heißer obendrein, denn am Himmel war nach wie vor nicht die kleinste Wolke zu sehen. Der Schweiß lief ihm in Strömen über Gesicht und Brust.
Hume goss währenddessen die Rosenhecke. Der Palastgärtner war ein rundlicher Mann mit gewaltigen Tränensäcken und ein paar vereinzelten Haaren auf dem Schädel. Stets trug er eine speckige Lederschürze, aus der die Griffe seiner Messer und Scheren ragten. Gemütliche Gleichgültigkeit schien die einzige Regung zu sein, zu der er fähig war, weshalb Jackon nur vermuten konnte, was Hume von ihm hielt. Einige Anzeichen sprachen jedoch dafür, dass sich der Gärtner über den Umstand freute, einen Helfer bekommen zu haben: Er behandelte Jackon einigermaßen freundlich und bemühte sich, seinen neuen Gehilfen in die Geheimnisse der Gartenarbeit einzuweihen. Dies tat er, indem er ununterbrochen redete: von sämtlichen Gewächsen des Gartens; von der Art und Weise, wie man sie gedeihen ließ; von den Schädlingen, die ihm tagein, tagaus zu schaffen machten. Anfangs hatte Jackon noch versucht, Humes Ausführungen zu folgen, im ehrlichen Bestreben zu lernen. Doch bald schon hatte er erschöpft aufgegeben. Hume war offenbar nicht an Zuhörer gewöhnt und erzählte so monoton und umständlich, dass selbst die interessanteste Information wie ein starkes Betäubungsmittel wirkte. Inzwischen beschränkte sich Jackon darauf, hin und wieder »Ja« und »Ach, tatsächlich?« zu murmeln und währenddessen seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.
Schließlich gab es einiges, über das er nachdenken musste. Beispielsweise die Ausbildung, von der Lady Sarka gesprochen hatte. Er wusste immer noch nicht, was er sich darunter vorstellen musste. Wie bildete man einen Traumwanderer aus? Umbra konnte er nicht fragen, denn er hatte die Leibwächterin nicht mehr gesehen, seit sie gestern vor dem Heckenlabyrinth so plötzlich verschwunden war.
Als die Schubkarre voll war, fuhr er sie zur Palastmauer, wo er die Steine in eine Grube schüttete. Arme und Rücken taten ihm weh. Die Arbeit im Garten war härter, als er gedacht hatte. Jackon hatte den Verdacht, dass Hume ihm hauptsächlich die Aufgaben übertrug, die ihm selbst zu anstrengend waren. Während der Gärtner Blumen goss, Unkraut jätete und Hecken schnitt, musste er Steine ausgraben, Gräben schaufeln und Baumstämme zersägen. Jackon machte das nichts aus; im Grunde gefiel ihm diese Arbeit sogar. Er war den ganzen Tag an der frischen Luft und konnte so schnell oder langsam arbeiten, wie er wollte, und in der vergangenen Nacht hatte er so gut geschlafen wie schon lange nicht mehr. Außerdem war alles besser, als in einem dunklen, stinkenden Abwasserkanal zu hocken und das Fangnetz zu bewachen.
Wenn nur die Hitze nicht wäre... Er war einfach nicht daran gewöhnt, in der Sonne zu arbeiten. Jackon machte eine Pause, zog sich in den Schatten unter einem Apfelbaum zurück und trank etwas Wasser. Den Rest des Flascheninhalts schüttete er sich über den Kopf. Anschließend fühlte er sich besser und machte sich daran, den Rest des Beetes umzugraben.
Er arbeitete bis zum Abend. Nachdem er eine weitere Schubkarrenladung weggebracht hatte, rammte er seine Schaufel versuchsweise an verschiedenen Stellen in die lockere Erde. Nirgendwo stieß der Spaten auf Widerstand. Offenbar hatte er sämtliche Steine ausgegraben.
»Ich bin fertig«, meldete er Hume.
Der Gärtner unterbrach seinen Monolog über Blattläuse und die Bekämpfung derselben. »Gut«, sagte er, nachdem er das Beet in Augenschein genommen hatte. »Bring das Werkzeug zum Schuppen, dann ist Schluss für heute.«
Jackon legte Schaufel und Hacke in die Karre und schob sie zu dem Bretterverschlag, bevor er zum Gesindeflügel schlurfte. Abendessen gab es frühestens in einer Stunde. Er war zu müde, um auf die anderen Bediensteten zu warten, also holte er sich etwas Brot und Käse aus der Vorratskammer des Gemeinschaftsraums. Nachdem er gegessen hatte, zog er sich in seine Unterkunft zurück, wo er sich mitsamt den Kleidern ins Bett fallen ließ. Waschen konnte er sich später, wenn er sich ausgeruht hatte.
Er döste ein.
»Zieh dir was Ordentliches an. Die Herrin will dich sehen.«
Jackon fuhr so jäh auf, dass er beinahe über die Bettkante gerutscht wäre. Umbra stand vor dem Fenster seiner Kammer, umgeben vom roten Glühen des Himmels. Seltsam, dass er sie nicht hatte hereinkommen hören. Normalerweise wachte er vom kleinsten Geräusch auf.
»Mach schon. Sie wartet nicht gern.«
Er musste mindestens eine Stunde geschlafen haben. Es war jener Moment des Abends, an dem die Schatten am längsten waren, kurz bevor die hereinbrechende Nacht sie in sich aufnahm. Umbra wirkte wacher als sonst, kräftiger. Und sichtlich ungeduldig. Mit schweren Gliedern stand er auf, wusch sich hastig und zog sich vor Umbra um.
»Gut so?«, fragte er und blickte an sich herunter.
»Wenn du mich fragst, siehst du immer noch aus wie eine Vogelscheuche. Aber es wird genügen, schätze ich... Wo willst du hin?«