»Äh, zur Tür?«
»Lass den Unsinn und komm her.«
Verwirrt ging er zur Fensterseite, wo Umbra ihn am Nacken packte, als wäre er ein schlachtreifer Stallhase. Sie schob ihn zu einem Winkel, wo sich die Schatten verdichteten. Sie traten in das Zwielicht... und durch die Wand. Jackon schrie und erwartete, in den Garten zu fallen, doch dann stellte er fest, dass sie sich nicht außerhalb der Palastmauern befanden, sondern in einer Art Tunnel, dessen gewölbte Wände man nur deshalb erkennen konnte, weil sie noch schwärzer waren als die Dunkelheit in seinem Innern.
»Wo...«, begann er, doch Umbra fiel ihm scharf ins Wort.
»Sei still. Du willst doch keine Düsterkralle anlocken, oder?«
»Was ist das?«, fragte Jackon, leiser nun.
»Bete, dass du das niemals erfährst.«
Ihr Griff um seinen Nacken wurde fester, und sie schob ihn nach links, wo eine Öffnung erschien. Licht gleißte und zerschmolz die Schatten, und vor ihnen tat sich eine Kammer auf.
Zu seiner Erleichterung befanden sie sich wieder im Palast, zumindest sah dieses Zimmer danach aus. »Wie hast du das gemacht?« Sein Herz pochte immer noch schnell und hart.
»Ich habe gar nichts gemacht. Ich habe es nur zugelassen.« Umbra gab ihm einen Stoß, woraufhin er nach vorn stolperte.
»Umbra«, erklang die sanfte und melodische Stimme von Lady Sarka. »Sei nicht so hart zu dem Jungen. Er weiß es doch nicht besser.«
»Seine Begriffsstutzigkeit kann einen zum Wahnsinn treiben.«
»Vergiss nicht, wo er aufgewachsen ist. Gib ihm Zeit. Er wird sich an alles gewöhnen. Lass uns jetzt allein.«
Jackon sah, dass Umbra in den Schatten verschwand, bevor er sich zur Lady umwandte. Das Zimmer hatte keine Fenster, und wie groß es war, ließ sich nicht feststellen, denn jenseits des roten und gelben Lampenscheins verlor es sich im Zwielicht. Dunkle Holzverkleidungen befanden sich an den Wänden. Ein Teppich dämpfte seine Schritte. Die rote Couch, das geschnitzte Tischchen mit einer blau funkelnden Karaffe darauf und die Vitrinen wirkten alt und ein wenig abgenutzt, aber nicht schäbig. In der Luft lag ein Geruch, dessen Quelle er nicht ausmachen konnte: ein feiner, würziger, berauschender Duft.
Lady Sarka trat in das Lampenlicht, und der rotgelbe Schein floss über ihre Gestalt und das cremefarbene Gewand. Ehrfurcht stieg in ihm auf.
»Es gibt Zimmer im Palast, die nicht jedermann zugänglich sind«, sagte sie. »Deshalb darfst du es Umbra nicht übel nehmen, falls sie dich erschreckt hat. Manchmal ist sie ein wenig grob.«
Nun fiel Jackon auf, dass es in dem Zimmer keine Tür zu geben schien. Doch vielleicht verbarg sie sich auch nur in den Schatten.
Die Lady lächelte. »Umbra sagt, du hattest heute deinen ersten Tag bei Ibbott Hume. Gefällt dir die Arbeit im Garten?«
Er nickte.
»Ibbott ist eine Seele von Mensch. Ich bin sicher, du wirst dich bei ihm sehr wohlfühlen. Setz dich«, forderte sie ihn auf.
Das rote und rissige Leder der Couch gab mit leisem Knarren nach, als Jackon sich neben Lady Sarka niederließ. Sie bewegte sich mit solcher Anmut, dass er sich daneben wie eine struppige Kanalratte vorkam. Ihr Haar floss wie Honig über ihre Schultern, und ihr Duft vermengte sich mit dem Wohlgeruch des Zimmers zu einer erregenden Mischung. Ihm wurde bewusst, dass er noch nie einer so schönen Frau begegnet war. Allerdings hatte er sich bisher auch nicht sonderlich für Frauen interessiert.
Ihm war, als würde ihr Blick die verborgensten Winkel seiner Seele ergründen und jedes Geheimnis offenlegen. »Eine besondere Nacht steht uns bevor, Jackon«, sagte sie. »Es ist Neumond. Die Grenzen zwischen den Welten sind dünn. Türen öffnen sich daher leicht.«
Es waren beunruhigende Worte, die sie sprach, doch irgendetwas bewirkte, dass keine Furcht in ihm aufstieg. Vielleicht der Duft. Schwer legte er sich auf seine Gedanken, machte ihn gleichmütig und ruhig.
»Die richtige Nacht für dich«, fuhr sie fort. »Keine Widerstände, keine Schranken. Keine Hindernisse, die dich aufhalten.«
Jackon verstand kein Wort, aber daran war er inzwischen gewöhnt. Er wartete geduldig.
»Lass uns mit deiner Ausbildung beginnen«, sagte Lady Sarka. »Bist du dafür bereit?«
Seine Ausbildung... Seit zwei Tagen dachte er an nichts anderes. Aber bereit war er deswegen noch lange nicht. »J-ja«, antwortete er zögernd.
Die Lady stand auf und setzte sich in einen Lehnstuhl. »Mach es dir bequem.«
Jackon streckte sich auf der Couch aus und bettete seinen Kopf auf ein Kissen. Es kam ihm mehr als seltsam vor, so dazuliegen, während die Lady ihn beobachtete.
»Wenn ein Mensch einschläft, verlässt seine Seele den Körper«, erklärte sie. »Sie zieht sich in die Traumlande zurück, wo sie eine Zuflucht besitzt, das Seelenhaus. Dort ruht sie sich aus, während der Körper schläft.«
»Meine Seele auch?«
Die Lady nickte. »Sie sucht Schutz in deinem Seelenhaus. Die Träume, die zu ihr kommen, helfen ihr, sich zu erholen.«
Jackon konnte sich nicht an ein solches Haus erinnern. Aber vielleicht hatte er es nur vergessen, so wie er auch stets seine Träume vergaß.
»Eine Seele kann ihre Zuflucht normalerweise nicht verlassen. Sie wandert durch die Träume, bis sie in ihren Körper zurückkehrt. Du jedoch bist anders, Jackon. Du kannst die Tür deines Seelenhauses öffnen und hindurchtreten.«
»Was ist dort? Hinter der Tür, meine ich.«
»Eine riesige Stadt. Größer, als du dir vorstellen kannst, denn sie besteht aus den Seelenhäusern aller Menschen. Du warst schon oft dort, auch wenn du dich vielleicht nicht daran erinnern kannst. Du hast die Tür geöffnet, bist durch die Straßen gewandert und hast die Seelenhäuser anderer Menschen betreten, weswegen sie Angst vor dir bekommen haben.«
Jackon schauderte, wenn er nur daran dachte. »Das war nicht meine Absicht.«
»Natürlich nicht. Deine Kräfte haben sich verselbstständigt, während sie stärker und stärker wurden. Aber deswegen bist du hier. Ich werde dir beibringen, deine Gabe zu beherrschen, damit sie deinem Willen gehorcht.«
»Was soll ich jetzt tun?«
»Zunächst musst du lernen, die Tür deines Seelenhauses zu finden. Sie wird von den Träumen überlagert und ist irgendwo darin versteckt. Du hast sie schon viele Male gefunden, aber immer nur zufällig. Mit meiner Hilfe wird es dir bald gelingen, sie aufzuspüren, sobald du dein Seelenhaus betreten hast.«
Plötzlich wurde Jackon klar, warum Lady Sarka ihn aufgefordert hatte, sich hinzulegen. »Ihr meint, ich soll schlafen? Hier?«
Sie lächelte. »Wie willst du die Tür deines Seelenhauses finden, wenn du wach bist?«
Er kam sich dumm vor. Natürlich musste er schlafen; schließlich wollte er ein Traumwanderer werden.
»Hab keine Angst«, sagte die Lady. »Dieses Zimmer ist der sicherste Ort des ganzen Palasts. Niemand kann dir etwas antun, während du schläfst. Außerdem passe ich auf dich auf.«
»Was ist, wenn ich nicht einschlafen kann?«
»Keine Sorge, das wirst du.«
Sie hatte recht: Kurz darauf war er wieder so müde wie vor einer Stunde, bevor Umbra ihn geholt hatte. Die Arbeit im Garten hatte ihn zu Tode erschöpft. Und der seltsame Geruch tat sein Übriges, dass ihm die Lider schwer wurden.
»Niemand kann vorhersagen, welche Träume dich in deinem Seelenhaus erwarten«, sagte die Lady, während er immer schläfriger wurde. »Sie werden dich verwirren, deshalb musst du versuchen, dich daran zu erinnern, die Tür zu finden. Denk an nichts anderes. Sonst vergisst du es, sowie du eingeschlafen bist.«
Muss die Tür finden, sagte er sich, während die Lady, die Couch, das ganze Zimmer in die Ferne entglitten.
»Versuch sie zu öffnen«, war das Letzte, was er hörte, bevor ihre Stimme verklang.
Er fand sich in einem Garten wieder. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass dies nicht der Ort war, an dem er sein sollte. Aus irgendeinem Grund hatte er ein Haus erwartet, ein Seelenhaus. Doch wohin er auch blickte, sah er Bäume, Sträucher und Statuen, von Kletterpflanzen umrankt. Weit und breit kein Haus in Sicht.